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Neustadt im
Odenwald (Stadt Breuberg, Odenwaldkreis)
Jüdische Geschichte / Synagoge
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In dem bis 1806 den Fürsten Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (zuvor auch meist zu
einem Viertel den Herren von Eppstein-Breuberg) unterstellten Neustadt im
Odenwald bestand eine jüdische Gemeinde bis nach 1933. Ihre Entstehung geht in
die Zeit des 18. Jahrhunderts zurück, doch lebten bereits in früheren
Jahrhunderten einzelne jüdische Personen am Ort (15./16. Jahrhundert). 1437
ist von Neustadt ein Jude nach Babenhausen
übersiedelt. 1469 lebten wenigstens vier erwachsene jüdische Männer,
vermutlich Familienhäupter, am Ort. Drei von ihnen, die als judenburger
bezeichnet wurden, sind damals einer Hostienschändung beschuldigt und verhaftet
worden und schworen bei ihrer Freilassung dem Grafen Wilhelm I. von Wertheim
Urfehde auf 'Moses Buch'.
Einzelne Juden werden auch im 17. Jahrhundert am Ort genannt.
Zeitweise waren vermutlich schon im 15. Jahrhundert Einrichtungen wie ein
Betraum, sicher ein jüdischer Friedhof vorhanden. Dieser - judenkirchhoff
- genannt, lag zwischen Schloss und Stadt und wird 1554 erstmals in einem Zins-
und Gülteverzeichnis erwähnt. 1751/52 wird ein judenacker gleichfalls
zwischen Schloss und Stadt genannt).
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner
wie folgt: 1828 49 jüdische Einwohner, 1837 16 jüdische Familien, 1861 83
jüdische Einwohner (9,6 % von insgesamt 865 Einwohnern), 1871 93, 1880 79 (9,2
% von 857), 1891 61, 1895 58, 1900 52 (7,0 % von 743), 1905 47, 1910 39 (4,9 %
von 798). Während in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch jüdische
Familien zuzogen oder zuziehen wollten (1843 beantragte Juda Schwarzschild, der
bisher in der Ronneburg
lebte, die Aufnahme in den Schutz von Neustadt, was jedoch abgelehnt wurde),
erfolgte nach 1870 die schnelle Abwanderung vom Ort, nachdem 1874 Neustadt nach
Auflösung des Kreises Neustadt seine Mittelpunktfunktion verloren hatte.
An ehemaligen jüdischen Wohnhäusern in Neustadt sind aus der Zeit des
19./20. Jahrhunderts bekannt (mehrere davon wurden inzwischen abgebrochen und
durch Neubauten ersetzt): die Gebäude Geisrain 2, 4, 20 und 24, Wertheimer Straße
3, 4, 5, 7, 14, 21, 26, 32, 34, Römerberg 3 und 6, Marktplatz 3, 7, 10 und 12,
Erbacherstraße 4, 6, 20, 25, 26, 30, 33, Sackgasse 1 und Brückenstraße 5.
An Einrichtungen bestanden im 19./20. Jahrhundert eine Synagoge (s.u.),
eine Schule (Religionsschule) und ein rituelles Bad (1900 renoviert, siehe
Bericht unten). Die Toten der Gemeinde wurden auf dem jüdischen Friedhof
in Michelstadt. nach Anlegung des Friedhofes
in Höchst auch dort beigesetzt. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der
Gemeinde war ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und
Schochet tätig war (siehe unten Ausschreibung der Stelle). An Lehrern
sind bekannt (mit Anstellungsjahr und Herkunftsort: Israel Oestreicher (1836,
aus Schnaittach),
Isaak Lehmann (1843, aus Gissigheim),
Lehrer Rohrheimer (1859, aus Lorsch),
Herz Herzfeld (aus König
im Odenwald), Daniel Reinheimer (1864, aus Habitzheim),
Carl Herzfeld (1867, aus Siegburg), Jacob Kleemann (1871-1892, aus Theilheim),
Israel M. Wolpert (1895 bis nach 1932). 1875 waren 16 Kinder in der
Religionsschule zu unterrichten, 1906 waren es noch 7. Die Gemeinde gehörte zum
orthodoxen Bezirksrabbinat Darmstadt II.
Um 1924, als zur Gemeinde noch 25 Personen gehörten (2,9 % von insgesamt
858 Einwohnern), waren die Vorsteher der Gemeinde Hugo Rosenthal, Friedel Marx
und Isidor Haas. 1932 waren die Gemeindevorsteher Moses Kempe (1. Vors.),
Siegfried Marx (2. Vors.) und Hugo Rosenthal (3. Vors.). Als Lehrer und Kantor
wird weiterhin J. M. Wolpert genannt. Die nur noch wenigen Schüler (1930
waren es noch sechs schulpflichtige Kinder) der jüdischen Gemeinde erhielten
ihren Religionsunterricht durch Lehrer Hermann Kahn in Höchst.
1928 gab es unter den jüdischen Gewerbetreibenden zwei Viehhändler,
zwei Pferdehändler und zwei Kaufleute.
1933 lebten noch 20 jüdische Personen am Ort (2,2 % von insgesamt
887 Einwohnern).
In
den folgenden Jahren ist ein Teil der
jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts,
der zunehmenden Entrechtung und der
Repressalien weggezogen beziehungsweise ausgewandert. 1936 wurden noch 19
jüdische Einwohner gezählt; außer den unten genannten - 1942 deportierten
acht Personen - handelte es sich um den Chemiker Julius Frank, Hanna Frank geb.
Rosenblum, Berta Haas, Helene Haas (1872), Helene Haas (1911), Franziska Marx,
Hugo Rosenthal, Berta Rosenthal geb. Haas, Edith Rosenthal, Moritz Rotschild,
Henriette Wolpert geb. Rotschild. Nach 1937 verzogen die genannten Personen in andere Orte (davon sieben nach Frankfurt).
Unklar ist, was beim Novemberpogrom 1938 mit der Synagoge passiert ist,
möglicherweise blieb sie unbeschädigt, sicher ist ein Überall auf das Geschäft der Familie Marx. Bis zum Beginn der Deportationen waren noch Angehörige der beiden
Familien Marx und Kempe in Neustadt. Sie wurden am 18. März 1942 deportiert.
Nach den Angaben des Gendarmerieposten vom 31. März 1942 handelte es sich um
den Kaufmann Moses Kempe mit Frau Julie Kempe geb. Rösberg und Sohn Ernst
Ludwig Kempe sowie um den Viehhändler (und letzten Gemeindevorsteher) Siegfried
Marx mit Frau Rosa Marx geb. Traube, die Kinder Kurt Marx und Erich Josef Marx
sowie die ledige Mathilde Marx.
Von den in Neustadt geborenen und/oder
längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit
umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Hanna Frank geb.
Rosenblum (1903), Julius Frank (1890), Helene Haas (1872), Ernst Ludwig Kempe
(1926), Julie Kempe geb. Rösberg (1891), Moses Kempe (1891), Erich
Josef Marx (1927), Franziska Marx (1896; 1939 Suizid in Frankfurt), Kurt Marx (1924), Mathilde Marx (1889), Rosa Marx geb.
Traube
(1889), Siegfried Marx (1876, letzter Vorsteher der Israelitischen Gemeinde), Berta Rosenthal geb. Haas (1896), Edith Rosenthal
(1923), Eduard Rothschild (1865).
Die Recherche in den genannten Verzeichnissen ist ohne bereits nach Namen
zielgerichtete Suche nicht möglich, da zwischen den verschiedenen Orten
"Neustadt" nicht klar differenziert
wird. Das obige Ergebnis ergibt sich nach konkreter Überprüfung der Namen der
19 1936 in Neustadt lebenden jüdischen Personen. Die Liste würde wesentlich
länger, wenn zusätzlich nach allen Personen recherchiert werden könnte, die
in Neustadt geboren oder vor 1936 längere Zeit am Ort gelebt haben.
Der Name von Eduard Rothschild (1865) konnte über die Zusendung der
"Todesfallanzeige" des Ghettos Theresienstadt durch Angehörige /
Nachkommen ergänzt werden. Er und seine Frau Clotilde geb. Geismar (geb.
1876 in Freiburg) sind in Theresienstadt umgekommen. Die Tochter Irma und ihr
Ehemann Dr. med. Manfred Stern konnten in die USA emigrieren.
Zum Gedenken an die Deportation der letzten jüdischen Einwohner Neustadts wurde
im März 2009 am alten Marktplatz (Ort der Deportation) eine Gedenktafel
enthüllt sowie für jeden der Deportierten ein Stolperstein an der Stelle seines
ehemaligen Wohnhauses (alle Stolpersteine in der Erbacherstraße/Alter
Marktplatz). Vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Breuberg.
Dazu auch den Artikel "Zum Jahrestag Gedenktafel und Stolperstein"
https://archive.ph/20140311200903/https://archive.ph/20140311200903/http://www.breuberg.de/index.php?bereich=2&seite=show.php&id=6628
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus der Geschichte der
jüdischen Lehrer
Ausschreibungen der Stelle des Religionslehrers / Vorbeters / Schochet
1864 / 1870 / 1871 / 1892
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8ö. Juni 1864:
"Die Stelle des israelitischen Lehrers und Vorsängers zu Neustadt im
Odenwald, mit welcher folgender Gehalt verbunden ist:
a. Fixum 200 fl. - b) Akzidenzien circa 100 Fl. - c)
Schächteramt fl. 70.- Im Ganzen 370 fl. -
und freier Wohnung ist erledigt und mit dem 1. Juni zu besetzen.
Bewerber wollen sich an den unterzeichneten Vorstand wenden.
Neustadt im Odenwalde, 16. Mai 1864. Marx Rothschild." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. August 1870:
"Annonce.
Ein israelitischer Religionslehrer, dem gute Zeugnisse zur Seite stehen
und der befähigt ist, gleichzeitig auch das Kantor- und Schächteramt zu
bekleiden, wird seitens hiesiger Gemeinde vom 1. November dieses Jahres zu
engagieren gesucht.
Bei freier Wohnung und Heizung des Schullokals dotiert die hiesige Stelle
einen fixen Gehalt von fl. 300 und außerdem bringen die Nebenverdienste
durch Schlachten etc. noch ein Einkommen von mindestens fl.
150.
Reflektanten wollen ihre Offerten alsbald franco an unterzeichneten
Vorstand gelangen lassen.
Neustadt (Odenwald), 21. August 1870. Der Vorstand." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 1. Februar 1871:
"Annonce.
Ein israelitischer Religionslehrer, dem gute Zeugnisse zur Zeit stehen und
der befähigt ist, gleichzeitig auch das Kantor- und Schächteramt zu
bekleiden, wird seitens hiesiger Gemeinde sofort zu engagieren
gesucht.
Bei freier Wohnung und Heizung des Schullokals dotiert die hiesige Stelle
einen fixen Gehalt von fl. 300 und außerdem bringen die Nebenverdienste
durch Schlachten etc. noch ein Einkommen von mindestens fl.
150.
Reflektanten wollen ihre Offerten alsbald franco an unterzeichneten
Vorstand gelangen lassen.
Neustadt (Odenwald), Januar 1871. Der Vorstand." |
Auf diese Ausschreibung bewarb sich
erfolgreich Lehrer J. Kleemann, der 21 Jahre in der Gemeinde bleiben
sollte. |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. November 1892:
"Vacanz.
Durch eingetretene Familienverhältnisse unseres mehr als 21 Jahre hier
fungierenden Lehrers, Herrn J. Kleemann, wird mit dem 1. Januar 1893 die
hiesige israelitische Religionslehrer-, Vorsänger- und Schächterstelle
vakant.
Diensteinkommen ja nach Leistung 700 bis 900 Mark. Qualifizierte Bewerber,
Russen und Polen ausgeschlossen, wollen ihre Gesuche mit Zeugnissen an den
unterzeichneten Vorstand einsenden. Unverheiratete Bewerber erhalten den
Vorzug.
Neustadt im Odenwald, 19. November. Der Kultusvorstand. Marx
Wertheimer. |
Ausschreibung der Stelle eines Vorbeters für die hohen
Feiertage o.ä. (1901)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5. September 1901:
"Die Gemeinde Neustadt im Odenwald sucht für die hohen
Feiertage einen Vorbeter und Bal Tokeah, eventuell einen Lehrer,
Chassen und Schochet per sofort. Derselbe darf auch Russe oder
Pole sein, aber unverheiratet, am liebsten einen Anfänger. Sofortige
Offerte mit Gehaltsansprüchen nimmt entgegen
Der Vorstand: Feist Haas II." |
Aus dem jüdischen Gemeindeleben
Unklare Ursache für die Verletzung einer jüdischen Frau (1868)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 28. Oktober 1868:
"Aus Neustadt im Odenwald wird dem 'Frankfurter Journal' berichtet,
dass daselbst am Abend des Versöhnungstages auf vier aus der Synagoge
kommende Frauen geschossen wurde. Eine der Frauen, die noch dazu guter
Hoffnung (sc. schwanger) ist, wurde derartig am Kopfe verwundet,
dass sie ohnmächtig nach Hause getragen werden musste. Wie der
Korrespondent des Frankfurter Journals vermutet, ist lediglich
Religionshass der Grund dieser fürchterlichen Ausschreibung.
Verlässliches wird die eingeleitete Untersuchung
ergeben." |
|
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 11. November 1868:
"Neustadt im Odenwald. In Bezug auf den in Nr. 44 aus dem
'Frankfurter Journal' mitgeteilten Artikel über die Verletzung einer
Judenfrau zu Stadt im Odenwalde wollen wir, damit ortsunkundige Leser
nicht irre geführt werden, Nachstehendes entgegnen. Es ist wahr, dass am
Abend des jüdischen Versöhnungstages eine auf der Straße (nicht in der
Nähe der Synagoge) mit anderen gehende Judenfrau eine vier Linien lange oberflächliche
Verletzung der Kopfschwarte erlitt, und dass sie guter Hoffnung ist.
Unwahr ist, dass sie ohnmächtig wurde und nach Hause getragen werden
musste. Unwahr ist, dass die Verletzung durch einen Schuss geschehen ist,
wenigstens liegt keine Spur von Beweis dafür vor, und alle
Urteilsführigen verneinen diese Annahme entschieden. Ob ein Zufall
vorliegt, oder ob jemand die Verletzung absichtlich oder fahrlässig
verschuldet hat, war bis jetzt nicht zu ergründen, und es ist also
völlig unentschieden, ob der allenfallsige Täter ein Christ oder Jude,
ein Erwachsener oder ein Knabe war, und ob ein rumänisches Gelüste (vermutlich
Triebtäter gemeint) zu Grunde lag, oder nicht. Zur Unterstützung des
Lokalarztes war kein Kreisarzt notwendig, denn die Wunde war so
unbedeutend, dass ärztliche Kunst in tausend ähnlichen Fällen
überhaupt nicht in Anspruch genommen wird. Amtliche Anzeige war nicht zu
erstatten, da der Fall sich nach dem Strafgesetzbuche höchstens als eine
geringste Körperverletzung ohne Arbeitsunfähigkeit betrachten lässt,
welche nicht von Amts wegen, sondern nur auf Anklage des Verletzten
bestraft wird. Die voraussichtliche ergebnislose Untersuchung wurde nur
auf Anklage des Ehemannes der Beschädigten eingeleitet. Wer aus der
Fassung des Artikels sich zu der Ansicht hinneigen sollte, dass die
Behörden von diesem Vorfalle keine Notiz genommen haben, mag sich dagegen
gesagt sein lassen, dass sowohl das Kreisamt, als die Bürgermeisterei und
die Gendarmerie noch im Verlauf der nächsten Viertelstunde an Ort und
Stelle waren und den Sachverhalt zu ermitteln suchten. Wenn wir noch
anfügen, dass die hiesige christliche Bevölkerung im tiefsten Frieden
mit ihren israelitischen Mitbürgern lebt, die von dem kleinen Unfalle
betroffene Frau von Herzen bedauert und über den glücklichen Ausgang
desselben beglückwünscht, so wird man unserer Versicherung glauben, dass
die israelitische Bevölkerung sich nach wie vor in Neustadt ganz
behaglich fühlt und in der Ausübung ihres Kultus in keiner Weise gehindert
wird." |
Die Vorlese-Kenntnisse der Gemeindeglieder lassen zu wünschen
übrig (1871)
Anmerkung zum
nachfolgenden Artikel: Zu Purim wird (am Vorabend des 14. Adar) nach dem
Abendgebet in der Synagoge die Purim-Geschichte in der hebräischen
Urfassung mit einer besonderen Festmelodie vorgelesen. Dies geschieht aus
einer auf Pergament handgeschriebenen Megila (siehe Foto links: Megila im
Museum in Tüchersfeld). Offenbar
war zu diesem Vorlesen beim Purimfest 1871 in Neustadt kein Gemeindeglied
fähig. Ein Lehrer / Vorbeter war damals nicht vorhanden (vgl. die Vakatur,
die auch aus den Ausschreibungen der Lehrerstelle 1870 und 1871 (siehe
oben) deutlich wird. Dies erklärt die im Artikel vorgetragene Kritik.
|
|
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 22. März 1871: "Aus dem hessischen Odenwalde. In der Gemeinde
Neustadt im Odenwald hat man am Purim-Fest die Megilla (Buch
Ester) aus einem Chumasch (hier wohl gemeint: aus einer
gedruckten Bibelausgabe) vorgelesen.
Die Gemeinde Neustadt, in der an 15 jüdische Familien wohnen, hat nicht
einen einzigen Privatmann aufzuweisen, der die Megilla in
Ermangelung eines Chassan (Vorbeters) und Lehrers wie
vorgeschrieben vorzulesen im Stande wäre! Wohin es doch in unserer
Zeit gekommen ist! Die Gemeinde, oder vielmehr ein Gemeinderepräsentant,
hat sich allerdings danach umgetan, einen Privatmann aus einer anderen,
naheliegenden Gemeinde zu dem betreffenden Dienst zu engagieren, aber wie
und wann hat man sich danach umgetan? Am Taanit Ester (sc. am Tag
vor dem Purimfest) des Nachmittags erst war der Abgesandte in einem
naheliegenden Orte; und wo hat man den Betreffenden angesprochen? auf der
öffentlichen Straße, nicht aber ist man in ein Haus gegangen, und als
die Sache nicht gleich angenommen werden konnte, da ja überhaupt die
öffentliche Straße kein Platz zur Übertragung und zur Annahme eines
solchen Dienstes ist, da hat man sich schon aller Verantwortlichkeit
enthoben gefühlt und war schließlich froh, das Geld gespart zu haben.
Ja, so weit ist es schon gekommen; wie weit wird es wohl noch kommen?
Doch, - das Verborgene ist des Ewigen unseres Gottes (5. Mose
29,28), stellen wir die Zukunft Gott anheim, indem wir jederzeit das Beste
hoffen." |
Die Mikwe (rituelles Bad) wird wieder hergestellt (1900)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8. November
1900: "Neustadt im Odenwald. Auch unsere kleine
Gemeinde schloss sich zur Zeit der orthodoxen Richtung, respektive dem
Großherzoglichen Landesrabbiner Herrn Dr. Marx - sein Licht leuchte
- an, und könnten wir jetzt nach ca. fünf Jahren mit freudigem Herzen
bekennen, dass unsere Wahl eine glückliche war. Vor ca. drei Jahren
beglückte uns Seine Ehrwürden Herr Rabbiner Dr. Marx mit seinem Besuche,
prüfte die Religionsschule, besichtigte unsere religiösen Institutionen,
fand leider unsere Mikwoh in sehr vernachlässigtem Zustande,
ermunterte den Vorstand und stellte die nötigen Mittel in Aussicht.
Unsere Mikwoh ist zur Zeit wieder hergestellt, und erhielten wir vor
einigen Tagen vom Herrn Rabbiner Dr. Marx einen Beitrag von 70 Mark. Wir
sprechen hiermit unserm Herrn Rabbiner unseren wärmsten Dank aus, und
wünschen, dass unsere Institutionen sich fernerhin einen regeren Besuch
erfreuen mögen, als bisher der Fall war." |
Zur Geschichte der Synagoge
Nach der Darstellung von
Arnsberg soll es in Neustadt seit etwa 1760 eine Synagoge gegeben haben,
wobei es sich vermutlich um einen einfachen Betraum in einem der jüdischen
Wohnhäuser gehandelt hat.
Zwischen 1830 und 1844 wurde eine (neue) Synagoge erbaut. Zunächst hatte 1830
die jüdische Gemeinde von dem Ortsbewohner Friedrich Hämel ein längs der
Wertheimer Straße stehendes zweistöckiges Haus gekauft, in dem die Wohnung des jüdischen
Lehrers sowie die jüdische Schule eingerichtet wurde. Dieses Haus hatte um 1800
dem Wagnermeister Georg Wilhelm Bausch gehört, spätestens seit 1808 Friedrich Hämel. Hinter dem Haus wurde
als Anbau ein einstöckiges Synagogengebäude errichtet. Zum Bau hatte die Gemeinde am 3.
November 1830 von der Großherzoglich-Hessischen Regierung für die Provinz
Starkenburg die Erlaubnis zur Durchführung einer Kollekte für den
Synagogenbau in den umliegenden Gemeinden erhalten mit dem Bescheid: "Nachdem der israelitischen
Gemeinde zu Neustadt die Erlaubnis erteilt worden ist, bei ihren
Glaubensgenossen in Hetschbach, Höchst, Kirchbrombach, Michelstadt, Beerfelden
und Reichelsheim milde Beiträge zur Errichtung einer Synagoge acht Tage lang
einzusammeln, so wird derselben gegenwärtiges Patent hierüber erteilt".
Wann die Synagoge genau erstellt und eingeweiht werden konnte, ist nicht
bekannt. Aus dem Jahr 1844 und 1859 liegen Synagogenordnungen vor.
Aus der Synagogengeschichte ist nur wenig bekannt. 1911 erfährt man
einmal von der Störung der Synagogenordnung, über die der Vorstand der jüdischen
Gemeinde Neustadt dem Großherzoglichen Kreisamt Erbach berichtete: "Am
Samstag, den 17. Juni 1911 haben sich Emanuel Wertheimer und Leopold Haas beide
von hier während des Gottesdienstes unterhalten. Auf Warnung haben sich beide
nichts gestört. Wir bitten Großherzogliches Kreisamt wolle beide Herrn darüber
zurechtweisen, wie sie sich in der Synagoge während des Gottesdienstes zu
benehmen haben. Ferner geht der Leopold Haas wie es ihm gefällt vor Beendigung
des Gottesdienstes aus der Synagoge, das auch untersagt ist. Wir bitten
ebenfalls darüber zurecht zu weisen."
Die Synagoge war bis zur Auflösung der israelitischen Gemeinde 1928 - nach dem
Wegzug der meisten Familien - Mittelpunkt des jüdisch-religiösen Lebens am Ort. Nachdem
der Status einer eigenen Gemeinde nicht mehr gegeben war, vermietete die
israelitische Gemeinde ab 1. August 1928 an die Stadt Neustadt das Gebäude. Es
(oder nur die bisherige Lehrerwohnung?) diente ab diesem Zeitpunkt der Stadt als
Wohnung für städtische Arbeiter. Die bürgerliche Gemeinde übernahm mit Vertrag
vom 23. Juli 1938 käuflich das gesamte Anwesen in der heutigen Wertheimerstraße
26. Instandhaltungsmaßnahmen wurden nicht ergriffen. Vermutlich 1939 wurde das
frühere Lehrerwohnhaus zusammen mit der Südwand der Synagoge abgebrochen, es
blieb nur eine Ruine zurück. Zu einer Neubebauung des Grundstückes kam es
zunächst nicht wegen der Kriegsbewirtschaftung. 1952 wurde das Anwesen verkauft;
nach Abbruch der Reste des Synagogengebäudes wurde ein Wohn- und
Geschäftshausneubau (Friseurgeschäft von Georg Fischer jun.) errichtet.
Adresse/Standort der Synagoge: auf
dem Grundstück Wertheimerstraße 26
Fotos
Erinnerungsarbeit
vor Ort - einzelne Berichte
März 2009:
"Stolpersteine"-Verlegung in Neustadt |
Dazu der Bericht
von Gabriele Lermann in der Website der Stadt Breuberg (Artikel
im Echo-Onlne.de; vgl. Artikel
im "main-netz.de"): Zum Jahrestag Gedenktafel und Stolperstein.
Die Stadt und die Bürgerstiftung Breuberg erinnern an die beiden jüdischen Familien Marx und Kempe, die am 18. März 1942 deportiert und später ermordet wurden.
Breuberg-Neustadt. Es ist neun Uhr am Mittwochmorgen 18. März. Eine Gruppe von Menschen versammelt sich am alten Markt. Dazwischen kniet ein Mann auf dem Boden, den Hut tief in das Gesicht, verrichtet er ungeachtet der vielen Menschen, die sich um ihn versammeln, seine Arbeit. Er hämmert, bürstet, passt an. Dort, wo er einige der Kopfsteinplastersteine herausgelöst hat setzt er fünf Steine, versehen mit Messingplatten und Namen:
Mathilde, Siegfried, Rosa, Kurt und Erich Josef Marx. Genau an diesem Tag vor 67 Jahren, am 18. März 1942, wurde die jüdische Familie Marx deportiert und in einem Lager im Osten ermordet. Die jüngsten Familienmitglieder, Kurt und Erich Josef, 18 und 15 Jahre alt..." |
|
Presseartikel von "Echo-online"
vom 7. August 2009 (zitiert aus der Website
der SPD Breuberg):
Das Beispiel in der Nachbarschaft gibt Neustadt Presse.
Gedenken: Im Odenwaldkreis weist Breuberg bereits acht jener Stolpersteine auf, die Michelstadt in sein Straßenbild einbringen will.
NEUSTADT. Mit rund 60 Stolpersteinen wird Michelstadt einen Schwerpunkt des Gedenkens an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt bilden – entsprechend der Größe, die seine jüdische Gemeinde bis weit ins Dritte Reich hinein aufwies. Die Vorreiter-Stellung bei dieser Form der Aufarbeitung auch lokal verübter, geförderter oder geduldeter historischer Verbrechen hat für den Südosten Hessens die Stadt Breuberg inne. Das Straßenbild ihres Stadtteils Neustadt nämlich weist seit einigen Monaten Stolpersteine auf..."
|
|
März 2011:
Gedenken an die Deportation der Neustadter
Juden |
Artikel in "echo-online.de" vom 27. März 2011 (Artikel):
"Auf Lastwagen in den Tod
Gedenkstunde: Stadt Breuberg erinnert an Neustädter Juden-Familien Marx und Kempe-
NEUSTADT. 'Damals war ich als achtjähriger Junge von unserem Haus in der Nähe der Kirche auf dem Weg zu unserer Schule, dort das Sandsteingebäude, das ehemalige Rentamt. Es muss acht Uhr früh gewesen sein, ich besuchte dort die zweite Volksschulklasse. Am Konsum – der Standort prägte sich ein – stand ein Lastwagen mit offener Pritsche und großen Vollgummirädern, auf dem Leute saßen und einige dazu stiegen. Das blieb in Erinnerung, da man sonst nur mit dem Postauto verreisen
konnte.'..." Stolpersteine übernommen. Dies auch, weil die Söhne der beiden Familien damals im gleichen Alter waren wie die Jugendlichen heute." |
|
Seit 2009 bis zur Gegenwart:
Jährliche Gedenkfeiern in
Neustadt |
Jedes Jahr (ausgenommen zwei Corona-Jahre
2020 und 2021) findet am 18. März eine Gedenkfeier mit Schülerinnen und
Schülern der Georg-Ackermann-Schule an den Stolpersteinen statt. Diese
werden dabei poliert, da sich schon bei der Verlegung 2009 die Schule sich
verpflichtet hat, die Stolpersteine zu pflegen. In der Website der
Georg-Ackermann-Schule finden sich Berichte zu den Gedenkfeiern.
Website der Schule:
www.georg-ackermann-schule.de Bericht 2022
http://www.georg-ackermann-schule.de/index.php/aktuelles/327-stolpersteine-2022
2024:
http://www.georg-ackermann-schule.de/index.php/aktuelles/353-stolpersteine-2024
|
Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Germania Judaica III,2 S. 966. |
| Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang -
Untergang - Neubeginn. 1971. Bd. II S. 128-129. |
| Keine Abschnitt zu Neustadt im Odenwald - da das
Synagogengebäude nach 1945 nicht mehr bestand - in den Büchern von Thea Altaras: Synagogen in Hessen. Was geschah seit
1945? 1988 und dies.: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in
Hessen. Was geschah seit 1945 Teil II. 1994. |
| "600 Jahre Stadt am Breuberg - Neustadt".
Breuberg 1978. 1. Aufl. Bausteine zu einer Geschichte der Stadt Breuberg.
Hierin: Abschnitt zur
jüdischen Geschichte von Thomas Geibel. |
| Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.):
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der
Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995 S. 244-245
(mit weiteren Literaturangaben S. 256). |
| Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany Volume
III: Hesse - Hesse-Nassau - Frankfurt. Hg. von Yad Vashem 1992
(hebräisch) S. 263-264. |
| Traugott
Hartmann: Neustadt. 630 Jahre Stadt unter dem Breuberg 1378-2008. Von
der Burgmannensiedlung zur Kreisstadt. Hrsg. Stadtarchiv Breuberg im Auftrag
des Magistrates der Stadt, Breuberg 2009. Darin S. 31-33: Die Neustädter
Synagoge und S. 33-37: Die Neustädter Kaufmannsfamilie Daniel Rothschild.
(beide
Abschnitte eingestellt als pdf-Datei). |
| Jutta Reisinger-Weber: Merk_mal(e). Erinnern und
Gedenken in der Stadt Breuberg. Hrsg. vom Stadtarchiv Breuberg 2014. Darin
S. 118-124: Denkmal für die Juden - Stolpersteine (Abschnitt
eingestellt als pdf-Datei). |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Neustadt
im Odenwald Hesse. The community, numbering 93 (about 11 % of the
total) in 1871, dwindled to 20 in 1933. On Kristallnacht (9-10 November
1938), the synagogue's interior war destroyed and by 1939 the Jews had mostly
emigrated.
vorherige Synagoge zur ersten Synagoge nächste Synagoge
|