Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Die Liturgie des Karfreitags lässt mich denken an ein zeitgenössisches Gedicht, das die Überschrift trägt »Bartimäus«. Sie erinnern sich: Bartimäus, das war der blinde Bettler am Stadtrand von Jericho (Mk 10,46-52), den Jesus heilte, als er mit seinen Jüngern in Jericho war.
Ich bin der, welchen er
sehend machte.
Was sah ich? Am Kreuz,
ihn, hingerichtet,
ihn, hilfloser als ich war,
ihn, den Helfer, gequält.
Ich frage: Musste ich meine
Blindheit verlieren, um das zu sehn.
(Rudolf Otto Wiemer)
Die Frage ist erschütternd, weil sie so natürlich, so verständlich ist. Der Mann wird von Jesus geheilt. Damit bekommt er nicht nur sein Augenlicht geschenkt. Nein, viel mehr noch: Der Blinde wird befreit aus seiner dunklen Isolation, wird zurückgeführt in die menschliche Gemeinschaft. Und auch das ist noch nicht alles: Mit dem Augenlicht erhält der Geheilte ein noch viel größeres Licht geschenkt: das Licht der Hoffnung darauf, dass es nicht nur ein festgelegtes und aussichtsloses Schicksal gibt, sondern dass eine Macht in der Welt ist, die die Kranken gesund macht, die Verwundeten heilt, das Dunkle besiegt und neue Anfänge schenkt. Bartimäus hat diese Macht an sich erfahren. Und nun muss er das erleben: Der, der ihn geheilt hat, ist nun selber geschlagen, isoliert, hilflos; nicht aufgrund einer Krankheit, nicht durch die Macht des blinden Schicksals, sondern – schlimmer noch - durch die Hand anderer Menschen. Soll dies das Ende vom Lied sein.
»Musste ich meine Blindheit verlieren, um das zu sehn?« In dieser kopfschüttelnden Frage schwingen nicht nur menschliche Trauer und Enttäuschung, sondern auch Glaubenszweifel: Offensichtlich war die Macht, war der Mensch, der ihn geheilt hat, doch nicht so stark, dass er die Kraft hätte, alles zu heilen, was krank und verwundet ist. Was nützt das Augenlicht, wenn man solch schreckliche Dinge wie die Kreuzigung sehen muss? Was nützt einem die Sehkraft, wenn sie einem am Ende nur die Grausamkeiten dieser Welt vor Augen führt? Wäre es nicht besser, in die schützende, in die barmherzige Dunkelheit zurückzukehren? Wäre es nicht besser, in die eigene enge Welt eines Blinden, so begrenzt sie auch war, zurückzukehren? Die Blindheit isolierte Bartimäus, aber sie schützte ihn auch vor allzu grausamen Bildern und Eindrücken.
»Musste ich meine Blindheit verlieren, um das zu sehn?« Wenn du uns so fragst, Bartimäus, dann müssen wir trotzdem sagen: Ja. Natürlich freuen wir uns mit dir, dass du deine Blindheit verloren hast. Wir freuen uns mit dir, dass du sehen kannst. Aber es war wohl ein Trugschluss, wenn du geglaubt hattest, dass dir nur die Augen für die schönen Dinge aufgehen, die hellen, die frohen, die ansehnlichen ... Leider gehören auch die dunklen, die grausamen, die unmenschlichen Dinge zur Wirklichkeit dieser Welt. Wolltest du für sie blind bleiben? Das geht nicht. Sehen zu können, heißt: die ganze Wirklichkeit dieser Welt in den Blick zu nehmen, nicht nur die ausgewählten, die ansprechenden, die sauberen, die Vorzeige-Seiten! Sehen heißt, bereit sein, alles zu sehen. Wessen Augen von Jesus geheilt wurden, der muss bereit sein, mit Jesus das Leben in all seinen Schattierungen in den Blick zu nehmen.
Bevor Jesus dich damals heilte, hat er dich gefragt: »Was soll ich dir tun?« Du hast ihm geantwortet: »Herr ich möchte wieder sehen können.« Wahrscheinlich war dir damals nicht bewusst, was du damit erbittest. Auch wir, die wir sehen können, Bartimäus, wir kennen die Versuchung, wegzuschauen, uns blind zu stellen, zu tun, als sähen wir nicht,
Ja, Bartimäus, wir können sehen, und doch müssen auch wir von Jesus geheilt werden, damit wir klarer sehen, damit wir den Mut haben nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen und so die Welt und die Menschen in uns hineinzulassen, an unser Herz zu lassen. Bruder Bartimäus, wir sehen und sehen doch nicht. Das ist unsere Krankheit. Von dieser Krankheit muss Jesus uns heilen. Wir bitten ihn heute nachmittag darum, dass er dies tut. Wenn wir nachher das Kreuz enthüllen, soll dies zugleich eine Bitte darum sein, dass er den Schleier von unseren Herzen nimmt, damit wir uns nicht abwenden von der »nackten« Realität dieser Welt – damals wie heute. Dass wir nicht übersehen: die Geschundenen, die Entrechteten, die Hilflosen, die Armen und Kranken ...
Wir bitten Jesus aber auch darum, dass er uns heilt, damit wir nicht nur klarer und nüchterner, sondern auch tiefer sehen; damit wir uns nicht in den Dunkelheiten dieser Welt verlieren, damit wir nicht an der Wirklichkeit verzweifeln. Wir wollen mit unserem Blick nicht im Schandmal des Kreuzes hängen bleiben. Nein, wir möchten, wie der Evangelist Johannes, Augen haben für die verborgene Herrlichkeit des Kreuzes, damit wir sehen, was der Herr in seiner übergroßen Liebe an uns getan hat. Denn auch dafür sind wir oft blind. Wir bleiben im Gestrüpp des Alltäglichen hängen und vermögen Gottes verborgene Gegenwart »in den schönen und in den bösen Stunden« (Alfred Delp) nicht zu sehen.
Wenn es gleich heißt: »Ecce lignum crucis«: »Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen«, dann wollen wir diese Aufforderung zum Sehen verstehen in der tiefsten Bedeutung dieses Wortes: als das Sehen, das dem vom Kreuz her geheilten Menschen entspricht. Amen