Liebe Hörerinnen und Hörer!
Jeden Tag müssen wir zig Entscheidungen treffen: Kurz nach dem Aufstehen fängt es schon an: Es stellt sich die Frage: Was ziehe ich heute an? Was esse ich beim Frühstück? Und es geht den Tag über weiter: Mit wem setze ich mich an den Tisch? Wie lautet die richtige Antwort auf eine Frage, die man mir stellt? Was erzähle ich wem, und was erzähle ich besser nicht? Welches Produkt kaufe ich aus dem, was da alles im Regal steht? Mit wem verbringe ich die Freizeit, die ich habe? Eine Unmenge an Entscheidungen treffen wir Tag für Tag, größere und kleine. Bei vielen Situationen entscheiden wir in Bruchteilen von Sekunden. Wir müssen nicht lange darüber nachdenken. Am Abend wissen wir kaum noch von ihnen.
Wenn es heute Abend um die Frage gehen soll: Wie hilft Gott bei Entscheidungen?, dann geht es nicht um solche kleinen Alltagsentscheidungen sondern um Entscheidungen, die von größerer Tragweite sind, die längerfristige Konsequenzen haben, die nicht von jetzt auf gleich wieder rückgängig gemacht werden können, die möglicherweise sogar Auswirkungen auf mein ganzes Leben haben, in diesem Sinne Lebensentscheidungen sind. Dazu gehört etwa die Entscheidung für eine bestimmte Ausbildung oder einen Beruf. Dazu gehört die Frage, wie will ich mein privates Leben gestalten: Will ich in einer Partnerschaft leben, eine Familie gründen und mit wem? Oder will ich vielleicht bewusst ehelos leben in einem Orden, in einer geistlichen Gemeinschaft oder als Priester?
Wer als Christ in einer solchen Entscheidungssituation steht oder schon gestanden hat, der kennt die Sehnsucht, von Gott einen klaren Tipp zu bekommen, wo es lang geht. Manch einer würde sich vielleicht sogar wünschen, dass die Stimme Gottes in uns so ähnlich wirkt wie der Knopf im Ohr von Sicherheitsleuten, die von ihrer Einsatzleitung unmissverständliche Hinweise bekommen, in welche Richtung sie sich zu bewegen haben. Nicht wenige Menschen, die zwischen verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten unschlüssig hin und her schwanken, wünschen sich ein eindeutiges Zeichen vom Himmel, das ihnen die Sicherheit gibt, das Richtige zu wählen.
Dass dieser Wunsch gar nicht so abwegig ist, sehen wir z. B. an den Lebensbeschreibungen des hl. Franz von Assisi. In ihnen wird berichtet, dass erst etwa zwei Jahre nach seiner Bekehrung sich auch andere für seine Lebensweise zu interessieren begannen. Der erste von ihnen war ein gewisser Bernardo, ein betuchter Mann. Er entschied sich, seinen Besitz unter die Armen zu verteilen, um sich Franz anzuschließen. Wie die Erzählungen schildern, freute sich Franziskus darüber sehr, war er doch bisher allein. Die beiden wollten aber sicher gehen, dass die Entscheidung richtig ist. Deshalb beschlossen sie, am nächsten Morgen zur Kirche S. Nicolò zu gehen und sich dort durch die Hl. Schrift die Bestätigung geben zu lassen. Die Legende erzählt: »Voll Hingabe beteten sie zum Herrn, er möge ihnen beim ersten Öffnen des Evangelienbuches seinen Willen kundtun. Nach dem Gebet ergriff Franziskus das geschlossene Buch und öffnete es, kniend vor dem Altar. Beim Öffnen stieß er auf den Rat des Herrn: ›Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben!‹ Als Franziskus dies hörte, freute er sich sehr und sagte Gott Dank. Weil er aber ein wahrer Verehrer der Dreifaltigkeit war, wollte er eine dreimalige Bestätigung erfahren und öffnete ein zweites und ein drittes Mal das Buch. Beim zweiten Öffnen fand er: ›Nehmt nichts mit auf den Weg ...‹ und beim dritten Mal: ›Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst ...‹ Franziskus sagte jedesmal beim Öffnen des Buches Gott Dank, dass er ihnen seinen schon lang ersehnten Plan dreimal bekräftigt habe« (Dreigefährtenlegende, 27-29). Wer würde sich nicht eine solche göttliche Bestätigung wünschen? Die Erfahrung zeigt allerdings, dass diese Art himmlischer Entscheidungshilfe eher selten ist.
Der christliche Ratgeber in Sachen Lebensentscheidung ist bis heute Ignatius von Loyola, der große spanische Heilige, der »Erfinder« der Exerzitien. Er hat dreihundert Jahre nach Franziskus gelebt hat. Ignatius, auf spanisch Iñigo, hat aber auch erst lernen müssen, dass man, um eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen, nicht aufs Geratewohl göttliche Zeichen fordern darf: In seiner Biographie erzählt er, dass sich auf einer Pilgerreise, die er mit einem Maultier unternahm, ein Maure - also ein Mann nordafrikanischer Abstammung - zu ihm gesellte, der ebenfalls auf einem Maulesel ritt. Sie kamen ins Gespräch und schließlich stritten sie über die Gottesmutter Maria. Der Maure wollte einfach nicht an ihre Jungfräulichkeit glauben. Sie konnten sich nicht einigen und der Maure ritt weiter. Ignatius aber war von der Uneinsichtigkeit des Mauren so erregt, dass er Lust verspürte, dem Mann einige Dolchstiche zu versetzen, um die Ehre der Mutter Gottes wiederherzustellen. Der Maure war aber schon vorgeritten ins nächste Dorf, und Ignatius war sich nicht ganz sicher, was er tun sollte. So beschloss er, die Zügel des Maultiers loszulassen und es bis zur nächsten Wegkreuzung alleine gehen zu lassen. Sollte es dann den Weg zum Dorf einschlagen, so wollte er das als göttliches Zeichen nehmen und den Mauren aufspüren, um ihm einige Dolchstiche zu verpassen. Sollte es aber am Dorf vorbeiziehen, so würde er den Mann in Ruhe lassen. Zum Glück trottete das Maultier einfach auf der Hauptstraße weiter (vgl. Pilgerbericht 15-16a). Für den Mauren wurde diese Entscheidung des Maultiers im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Lebensentscheidung ...
Wie aber wurde aus dem leidenschaftlichen Heißsporn Ignatius ein kluger Berater für Fragen christlicher Lebensentscheidungen? Zunächst sah es so aus, als ob Iñigo für sich selbst gar keine Entscheidung zu treffen bräuchte. Der Weg war vorgezeichnet: Als Sohn einer baskischen Adelsfamilie wurde er Offizier, erzogen nach ritterlichen Idealen. Doch dann kommt der Einschnitt: Bei einer Schlacht vor Pamplona wird er schwer verwundet und liegt lange auf dem Krankenbett. Um die Langeweile zu vertreiben, liest Ignatius gerne Ritterromane, aber es gibt kaum welche. Im Schloss finden sich allerdings ein Buch über das Leben Jesu und Heiligenlegenden. Beim Lesen macht der verwundete Ignatius nun die interessante Erfahrung, dass sich in ihm unterschiedliche Empfindungen und Gefühle einstellen: Liest er Ritterromane und träumt davon, wie er Abenteuer im Dienst einer vornehmen Dame oder Taten als Ritter vollbringt, dann ist er nur begeistert, solange er in seinen Phantasien schwelgt. Danach aber empfindet er einen faden Beigeschmack. Umgekehrt aber ist es so: Wenn er sich, angeregt durch die Lektüre der Hl. Schrift oder von Heiligenbiographien, vorstellt, ganz in der Nachfolge Jesu zu leben oder ein Leben zu führen ähnlich wie die Heiligen, dann bleibt er auch danach froh und ermutigt (vgl. Pilgerbericht, 6-8).
Wer gewohnt ist, auf seine Gefühle zu achten, dem wird das nicht als etwas Besonderes vorkommen. Aber viele Menschen tun sich damit schwer, aufmerksam zu sein auf das, was in ihnen vorgeht und es zuzulassen. Für den Ritter Ignatius waren die Erfahrungen auf dem Krankenbett der erste entscheidende Schritt. Er sagt: Ich lernte die verschiedenen »Geister« - so nennt er die Gefühlsregungen in sich - zu unterscheiden. Und diese Unterscheidung half mir und hilft jedem, der für sie aufmerksam ist, besser zu entscheiden. Denn in diesen Regungen spricht Gott zu mir. Er ist ja durch den Geist, den er uns in der Taufe und der Firmung geschenkt hat, in uns wie ein »innerer Lehrer« (Augustinus), der uns hilft, das Richtige zu erkennen. Natürlich muss die Aufmerksamkeit trainiert werden, um die Stimme des inneren Lehrers zu hören. Denn es sind in uns ja auch andere Stimmen, die uns beeinflussen: Stimmen unguter Begierden, die in uns leben und vielleicht sogar stark sind, dass sie uns wegzuschwemmen drohen; Stimmen auch, die von außen kommen und mit Macht ins uns einzudringen versuchen, um uns zu manipulieren. Das können Stimmen von einzelnen Menschen sein, von einer Gruppe, aus den Medien ...
Vielleicht habt Ihr, liebe junge Hörerinnen und Hörer, sogar den Eindruck, dass in Euch oft chaotisches Stimmengewirr herrscht und Ihr Euch fragt, welcher Stimme soll ich nur folgen? Welche Stimme rät in mir das Richtige? Welcher Stimme kann ich vertrauen? Welche ist die Stimme Gottes? Als Antwort könnte die einfache Grundregel gelten: »Was [dir] auf Dauer tiefe Freude, Frieden, Freiheit, Liebe und innere Stimmigkeit bringt, das ist eine gute Wegspur. Wer diesen Impulsen folgt – auch gegen manche Widerstände -, der darf sich [von Gott] geführt wissen« (W. Lambert: Die Kunst der Kommunikation, Freiburg 1999, 97).
Wenn wir also noch einmal zurückkehren zu unserer Ausgangsfrage Wie hilft Gott bei Lebensentscheidungen?, dann können wir jetzt schon sehen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, spektakuläre Zeichen zu erwarten. Gottes Sprache ist leise, nicht gewalttätig, ohne Zwang. Deshalb geht es mehr darum, unsere Aufmerksamkeit auf die Zeichen zu richten, die Gott in unserem normalen Lebensalltag versteckt hält. Um sie aufzuspüren, braucht es nicht nur offene Augen und Ohren (die braucht es auch!). Es braucht die innere Offenheit des Herzens, die aufmerksam ist auf die verschiedenen Regungen in uns: auf Angst und Freude, auf Traurigkeit und Mut, auf Aggression und Frieden, auf Unruhe und Gelassenheit, auf Niedergeschlagenheit und Tatendrang ...
Ich möchte abschließend drei Faustregeln nennen, die helfen können, die nötige Aufmerksamkeit für die Hinweise Gottes zu schärfen. In unserem anschließenden Gespräch haben wir sicher Gelegenheit, über weitere Tipps zu sprechen: