Bischof Dr. Ackermann zum Papstbrief an die irische Kirche

Hier der Papstbrief zu den Fällen sexuellen Missbrauchs in der irischen katholischen Kirche - Erklärung von Erzbischof Robert Zollitsch 


Der Brief gliedert sich in 14 Abschnitte und endet mit einem Gebet für die Kirche in Irland. Ich würde den Brief in seinem Stil als einfühlsam, klar und spirituell zugleich charakterisieren.

Inhalt des Papst-Briefes:

  • Die Situation in Irland Switch

    In den ersten beiden Abschnitten schildert der Papst die in Irland durch den sexuellen Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen entstandene Situation. Gleich im dritten Satz wird der Papst sehr deutlich, wenn er sagt: »Ich kann die Bestürzung und das Gefühl des Vertrauensbruchs nur teilen, das so viele von euch beim Erfahren dieser sündhaften und kriminellen Taten und der Art der Autoritäten der Kirche, damit umzugehen, erfahren haben.« Wenige Sätze später macht er unmissverständlich klar, dass er davon ausgeht, dass – nicht zuletzt durch die Gespräche, die er mit den irischen Bischöfen in der letzten Zeit geführt hat – nun eine Weise des Umgangs mit dem Thema gefunden wird, »die den Anforderungen der Justiz und der Lehre des Evangeliums entspricht« (Nr. 1).

  • Der Brief des Papstes im Einzelnen Switch

    Im nächsten Abschnitt benennt der Papst mit den kriminellen Vergehen der Täter noch einmal offen die »oftmals unangemessene Reaktion der kirchlichen Autoritäten« (Nr. 2), kritisiert also klar die Bischöfe und Ordensoberen in ihrem Vorgehen und sieht die Absicht seines Briefes darin, »einen Weg der Heilung, der Erneuerung und der Wiedergutmachung vorzuschlagen.« Wenn auch, wie der Papst sagt, »das Problem des Missbrauchs von Kindern weder ein rein irisches noch ein rein kirchliches ist«, so weist der Papst doch darauf hin, dass es zur Aufarbeitung gehört, die begangene Sünde gegen schutzlose Kinder vor Gott und vor anderen offen zuzugeben, sie anzunehmen, sie zu bereuen und für die Zukunft einen Schutz vor solchen Verbrechen sicher zu stellen.

    Geschichte der irischen Kirche

    Im Fortgang des Textes wirft der Papst einen Blick zurück in die Geschichte der irischen Kirche: Er erinnert an die vielen Missionare, die die irische Kirche hervorgebracht hat, angefangen von den keltischen Mönchen, die von Irland her auf das europäische Festland kamen, um dort die Botschaft des christlichen Glaubens zu verbreiten und dabei das Fundament der mittelalterlichen Klosterkultur gelegt haben. Der Papst erinnert an die Erziehungs- und Bildungsleistung, die in den Klöstern stattgefunden hat. Sodann wirft der Papst einen Blick auf die Zeit der Verfolgung der irischen Katholiken, die im 16. Jahrhundert begann. Nach der neu errungenen Freiheit erlebte der irische Katholizismus im 19. Jahrhundert eine neue Blüte, von der auch die große Zahl der geistlichen Berufungen zeugt, von denen viele ihre Heimat verließen, um auf allen Kontinenten tätig zu werden, vor allem in der englischsprachigen Welt.

    Was die jüngste Vergangenheit der zurückliegenden Jahrzehnte angeht, nimmt der Papst die schweren Herausforderungen für den Glauben in den Blick, die durch »die rasche Transformation und Säkularisierung der irischen Gesellschaft« zu bestehen waren (Nr. 4). In diesem Zusammenhang beklagt er u. a., dass viele Priester und Ordensleute sich stärker von Säkularisierungstendenzen haben prägen lassen als von den Prinzipien des Evangeliums. Er beklagt ein falsches Verständnis des Erneuerungsprogramms des II. Vatikanischen Konzils, das mitbedingt war durch die tiefgreifenden Wandlungen der irischen Gesellschaft. In besonderer Weise nennt der Papst kritisch »die wohlmeinende aber fehlgeleitete Tendenz, Strafen für kanonisch irreguläre Umstände zu vermeiden« (Nr. 4). Offensichtlich hat es also klare Verstöße gegen die eindeutigen Normen des Kirchenrechts gegeben, gerade auch im Bereich des sexuellen Missbrauchs.

    Ursachen der Krise

    In seiner skizzenhaften Analyse der Tatsachen, die zur Krise der irischen Kirche geführt haben, nennt der Papst konkret auch: 1. »unangemessene Verfahren zur Feststellung der Eignung von Kandidaten für das Priesteramt und das Ordensleben«, 2. eine »nicht ausreichende menschliche, moralische, intellektuelle und geistliche Ausbildung in Seminarien und Noviziaten«, 3. »eine Tendenz in der Gesellschaft, den Klerus und andere Autoritäten zu favorisieren«, d. h. m. E. sie in übertriebener Weise hochzuschätzen und zu schützen; und 4. »eine fehlgeleitete Sorge für den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen.« Diese Faktoren haben dazu geführt, dass vorgesehene kirchenrechtliche Strafen nicht angewendet wurden und die Würde der Person, das heißt der Missbrauchsopfer, nicht ausreichend geschützt wurde.

    Nach dieser Kurzanalyse erinnert der Papst in der Nr. 5 daran, dass er bereits mehrfach mit Opfern sexuellen Missbrauchs zusammengetroffen ist (am Rande der USA-Reise und des Weltjugendtags in Australien 2008) und er bereit ist, dies auch in Zukunft zu tun. Er stellt sich damit persönlich den Leidensgeschichten der Opfer und verspricht ihnen seine Nähe im Gebet.

    Ansprache der betroffenen Gruppen

    In den nächsten sieben Abschnitten wendet er sich dann an einzelne von der Missbrauchsproblematik betroffene Gruppen:

    • An die Opfer des Missbrauchs (Nr. 6)

    Sie werden als erste genannt. Für sie findet der Papst, nach meinem Urteil, sehr einfühlsame Worte: »Ihr habt viel gelitten und ich bedaure das aufrichtig. Ich weiß, dass nichts das Erlittene ungeschehen machen kann. Euer Vertrauen wurde verraten und eure Würde wurde verletzt. Viele von Euch mussten erfahren, dass, als Ihr den Mut gefunden habt, über das zu sprechen, was euch zugestoßen ist, Euch niemand zugehört hat. Diejenigen von euch, denen das in Wohnheimen und Internaten geschehen ist, müssen gefühlt haben, dass es kein Entkommen gibt aus Eurem Leid. Es ist verständlich, dass es schwer für Euch ist, der Kirche zu vergeben oder sich mit ihr zu versöhnen. Im Namen der Kirche drücke ich offen die Schande und die Reue aus, die wir alle fühlen. Gleichzeitig bitte ich Euch, die Hoffnung nicht aufzugeben.« (Nr. 6).

    Sehr eindrücklich ist, dass Papst Benedikt die Opfer ganz in der Nähe Jesu selbst sieht, sie gewissermaßen mit ihm identifiziert und daran erinnert, dass auch Jesus Opfer ungerechten Leidens geworden ist, ausgelöst durch den Verrat aus den eigenen Reihen. Zugleich erneuert der Papst die tiefe christliche Hoffnung, dass »Christi eigene Wunden, verwandelt durch sein erlösendes Leiden, [...] der Weg [sind], durch den die Macht des Bösen gebrochen wird.«

    • An die Täter (Nr. 7)

    Die zweite Gruppe, die angesprochen wird, sind die Täter. Der Abschnitt ist kürzer als der vorangehende, lässt aber an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Papst spricht vom »Verrat« des Vertrauens, das junge Menschen und Familien in Priester und Ordensleute gesetzt haben, er ruft die Verantwortung vor dem allmächtigen Gott und den irdischen Gerichten ins Bewusstsein. Wörtlich schreibt der Papst: »Ihr habt die Achtung der Menschen Irlands verspielt und Schande und Unehre auf Eure Mitbrüder gebracht. Die Priester unter Euch haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt ... Gemeinsam mit dem immensen Leid, das Ihr den Opfern angetan habt, wurde die Kirche und die öffentlichen Wahrnehmung des Priestertums und des Ordensleben beschädigt. Ich mahne Euch, Euer Gewissen zu erforschen, Verantwortung für die begangenen Sünden zu übernehmen und demütig Euer Bedauern auszudrücken ... Erkennt Eure Schuld öffentlich an, unterwerft Euch der Rechtsprechung, aber verzweifelt nicht an der Gnade Gottes.« In diesen Worten wird deutlich, dass der Papst die Täter in keiner Weise entlastet. Sie tragen die Verantwortung.

    • An die Eltern missbrauchter Kinder (Nr. 8)

    Dann kommen die Eltern in den Blick, und auch hier schlägt der Papst eine sehr einfühlsame Sprache an, wenn er den Eltern schreibt: »Ihr seid zutiefst entsetzt über die furchtbaren Dinge, die an den Orten stattgefunden haben, die eigentlich die sichersten und sorgenfreiesten Orte hätte sein sollen. Es ist heute nicht einfach, ein Zuhause zu bilden und Kinder zu erziehen. Sie verdienen es, sicher aufzuwachsen, geliebt und geschätzt mit einem starken Gefühl ihrer Identität und ihres Wertes.« Er bittet die Eltern mitzuhelfen, dass die Kinder ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln können und bittet auch um Mitsorge bei der Prävention.

    • An die irischen Kinder und Jugendlichen von heute (Nr. 9)

    Die irischen Kindern und Jugendlichen weist Benedikt XVI. darauf hin, dass sich Kirche und Welt seit der Zeit ihrer Eltern und Großeltern sehr verändert haben. Er bittet die Kinder und Jugendlichen, sich durch die Skandale nicht vom Aufbau einer Beziehung zu Jesus Christus abbringen zu lassen. Zugleich bittet der Papst die jungen Menschen darum, mitzuhelfen an der Erneuerung der Kirche in Irland.

    • Die Priester und Ordensleute (Nr. 10)

    In der Ansprache an diese Gruppe spürt man die Zerreißproben, in die die Priester und Ordensleute in Irland durch die aktuelle Situation gestellt sind: Die Wut, die Empörung und die Enttäuschung derjenigen, die in der Öffentlichkeit unter den Verbrechen der Täter zu leiden haben, wird nicht verschwiegen. Der Papst bittet dennoch herzlich um die für eine Erneuerung und Versöhnung notwendige Kooperation mit den Kirchenoberen.

    • An die Bischöfe (Nr. 11)

    Hier wird die Sprache wieder sehr klar und unmissverständlich: Es ist von »Versagen« früherer und heutiger Bischöfe die Rede, der mangelnden Anwendung des Kirchenrechts. Der Papst spricht von »Fehlurteilen« und »Leitungsfehlern«, die zu einem gravierenden Glaubwürdigkeitsverlust geführt haben. Der Papst erwartet nun Entschiedenheit, volle Aufrichtigkeit und Transparenz. Er ermahnt die Bischöfe zu mehr Solidarität mit dem Volk Gottes und zu größerer pastoraler Sorge. Er fordert die Bischöfe und Ordensoberen auch dazu auf, achtsamer zu sein auf die geistlichen und moralischen Bedürfnisse der Priester, das heißt, in stärkerer Weise ein offenes Ohr auch für deren Nöte zu haben. Schließlich wendet sich der Papst gegen eine Klerikalisierung der Kirche, indem er dazu ermutigt, den Laien stärker die ihnen eigene Rolle im Leben der Kirche zukommen zu lassen.

    • An alle Gläubigen in Irland (Nr. 12)

    Alle Gläubigen in Irland werden darauf hingewiesen, dass es zum einen geeignete Maßnahmen zur Aufarbeitung der Krise braucht, darüber hinaus aber für die Kirche im Land eine Vision vonnöten ist, um nach vorne zu schauen und zukünftige Generationen aus dem Glauben heraus zu inspirieren.

    Initiativen für die irische Kirche

    Der Brief schließt in der Nr. 14 damit, dass der Papst einige Initiativen vorschlägt bzw. ankündigt:

    1. Benedikt XVI. schlägt vor, nicht nur in der noch verbleibenden Fastenzeit, sondern bis Ostern 2011 den Freitag, der traditionellerweise in der katholischen Kirche den Charakter eines Buß- und Fasttags trägt, im Anliegen der Erneuerung der Kirche Irlands zu begehen und dabei um »das Ausgießen der Barmherzigkeit Gottes und der Geistesgaben der Heiligkeit und Stärke« zu beten. Es geht dem Papst also um einen geistlichen Weg der Erneuerung, zu dem auch das Bußsakrament und die Eucharistische Anbetung gehören.
    2. Darüber hinaus kündigt der Papst eine Apostolische Visitation einiger Bistümer, Seminare und Ordensgemeinschaften an, wobei er keine namentliche Nennung vornimmt.
    3. Schließlich schlägt er eine sog. Mission in ganz Irland für alle Bischöfe, Priester und Ordensleute vor. Daraus wird deutlich, dass der Papst die tiefere Ursache der schrecklichen Verfehlungen in Irland in einer Krise des Glaubens und des gesamten kirchlichen Lebens begründet sieht, die durch die Missbrauchsskandale in schrecklicher Weise offenbar geworden ist.

Kommentierende Hinweise:

Welche Gedanken aus dem Hirtenbrief des Papstes haben Bedeutung auch für Deutschland? Bischof Ackermann:

1. Die Missbrauchsfälle in der Kirche in Deutschland werden nicht eigens genannt, was aber nicht verwunderlich ist bei einem Brief, der ausdrücklich an die irischen Katholiken gerichtet ist und die kirchliche Situation dort, gerade auch mit ihrer spezifischen Geschichte in den Blick nimmt.
2. Dennoch gelten die grundsätzlichen Aussagen des Briefes auch für uns in Deutschland, ja weltweit. Dazu gehören

  • die eindeutige Verurteilung sexuellen Missbrauchs als Verbrechen (hier war die Lehre der Kirche immer eindeutig);
  • die Aufforderung, Vergehen und Fehler offen einzugestehen;
  • die offene Kritik an jeder falschen Sorge um den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen (Nr. 4);
  • der primäre Blick auf die Opfer in Aufarbeitung und Prävention;
  • keine Entlastung der Verantwortung der Täter bei unzweideutiger und scharfer Kritik an mangelnder Verantwortung kirchlicher Autoritäten (Bischöfe, Obere);
  • die Einschärfung der genauen Einhaltung der kirchenrechtlichen Normen;
  • der klare, mehrfach wiederholte Appell, mit den staatlichen Behörden zu »kooperieren« und die Vorgaben der Justiz voll einzuhalten (Ich habe 5 Stellen gezählt: Nrn. 1, 5, 7, 11. M. E. ist sehr bemerkenswert, dass der Papst in der Nr. 1 die »Anforderungen der Justiz« sogar noch vor der »Lehre des Evangeliums« nennt,);
  • die Mahnung zu einer soliden Priesterausbildung;
  • die Kritik an einem klerikalistisch verengten Kirchenverständnis (Nrn. 4 und 11).

3. Paradigmatisch ist selbstverständlich auch die Einbettung der gesamten Missbrauchsthematik in den Horizont des Glaubens. Der Brief des Papstes macht aber zweifelsfrei klar, dass die Perspektive des Glaubens die juristische, menschliche, individual- und sozialpsychologische Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in keiner Weise ersetzen oder verbrämen soll. Vielmehr geht es um eine Perspektive, die die genannten Instrumente und Methoden übersteigt und auch da noch auf Versöhnung, auf Heilung und Neuanfang hofft, wo unsere menschlichen Mittel an ihr Ende kommen.

Weiteres:

Bischof Dr. Ackermann zum Papstbrief an die irische Kirche

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