Eminenz, lieber Herr Metropolit,
Exzellenzen, sehr geehrte Gäste des Jahresempfangs der Metropolie!
Die Aufdeckung zahlreicher Fälle sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen haben uns in den letzten Monaten auf sehr schmerzliche Weise mit einer dunklen Seite der katholischen Kirche konfrontiert. Über die notwendige Aufarbeitung der konkreten Vergehen hinaus und die Verbesserung von Maßnahmen zu ihrer Verhinderung stehen wir auch vor der Herausforderung einer selbstkritischen Relecture der jüngsten Kirchengeschichte (nicht nur in unserem Land).*)
Nicht wenige Stimmen, die in den letzten Wochen innerhalb und außerhalb der Kirche laut wurden, gehen aber noch entschieden weiter und hinterfragen Wesen und Auftrag der Kirche insgesamt: Sie sehen in der Kirche ein korruptes, machtversessenes, klerikerdominiertes und reformunfähiges System, das wahre menschliche Entwicklung verhindert und deshalb, wenn nicht ganz abgeschafft, so doch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in die Schranken gewiesen und unschädlich gemacht werden muss. Man scheut nicht den Vergleich mit einem verpanzerten »Reptil«, dem man allenfalls noch einen »herben chamäleonhaften Charme« zugesteht.*) Bei manchen Kommentaren der vergangenen Monate über die katholische Kirche fühlte ich mich erinnert an die mittelalterlichen Darstellungen der »Frau Welt«, jene allegorischen Figuren aus Stein, deren Vorderseite eine verführerisch-anmutige Frau zeigt. Umschreitet man sie und schaut auf ihren Rücken, dann ist dieser übersät von Kröten und Schlangen, Ungeziefer, Eiter und Moder: drastische Symbole der Verdorbenheit. Es scheint, als ob die Missbrauchsthematik gewissermaßen den Blick freigäbe hinter die saubere Fassade der »Frau Kirche« und ungehindert ihre modrig-abstoßende Kehrseite zeige. Damit ist, in den Augen ihrer Gegner, die Kirche endlich und vollends ihrer verlogenen Scheinheiligkeit überführt. Nichts trifft aber die Glaubwürdigkeit der Kirche härter als der Vorwurf der Verlogenheit und Scheinheiligkeit. Denn ohne Vertrauensvorschuss kann die Kirche ihren Auftrag nicht erfüllen.
Damit erhält die alte Debatte um die Heiligkeit und die Sündigkeit der Kirche eine ganz neue Aktualität, und dies nicht nur für innertheologische Fachkreise. Es fehlt nämlich nicht an Stimmen, die sogar einen konkreten Zusammenhang sehen zwischen dem Kirchenverständnis und dem Umgang mit Verfehlungen in der Kirche, zumal dann, wenn sie von Amtsträgern begangen werden. Ist es nicht tatsächlich so, dass die Vorstellung von einer unantastbaren Heiligkeit und Makellosigkeit der Kirche mit dazu beiträgt, die Verfehlungen einzelner zu vertuschen, wenn durch sie die Gefahr besteht, die Kirche als ganze könne in Mitleidenschaft gezogen werden.*) Wie leicht wird da Theologie zu Ideologie, so lautet der Vorwurf. *)
Die aktuelle Kirchenstunde fordert uns also heraus, noch einmal neu und intensiv über das Verhältnis von Heiligkeit und Sündigkeit der Kirche nachzudenken. Freilich kann ich in dieser Rede dazu nur ein paar gedankliche Striche skizzieren.
Wenn es auch in den Grundlagen des Kirchenverständnisses keinen substantiellen Dissens zwischen der östlichen und der westlichen Theologie gibt, so sind doch unterschiedliche Akzentuierungen festzustellen. Ich möchte sie im Folgenden kurz benennen, wobei die katholische Sicht, nicht zuletzt aus gegebenem Anlass, einen etwas breiteren Raum einnehmen wird. Ich bitte auch jetzt schon um Verständnis, dass ich in der Vorbereitung nicht die Zeit gefunden habe, im Bereich der orthodoxen Theologie ausführlich zu recherchieren.
Soweit ich dies aber sehen kann, ist die Position der orthodoxen Theologie eindeutig: In ihr wird die Kirche primär in ihrem heiligenden, vergöttlichenden Charakter verstanden, gleichsam als Raum der Heiligung, der durch die Gegenwart Jesu Christi mit Heiligkeit erfüllt wird und zugleich ein grundlegend pneumatologisches Gepräge besitzt. Darüber hinaus hat die orthodoxe Ekklesiologie ein sehr lebendiges Bewusstsein für die Einheit von irdischer und himmlischer Kirche. Mehr als in der gottesdienstlichen Frömmigkeit des Westens wird dies auch in der Liturgie der Ostkirche deutlich. Das bedeutet durchaus nicht, dass die Orthodoxie die Sündhaftigkeit des Menschen unterschätzen würde. Nein, die Sündhaftigkeit wird verstanden als Verlust der Gottähnlichkeit des Menschen, die es neu zu erlangen gilt.
Allerdings verformt die Sündhaftigkeit des Menschen nicht das Wesen der Kirche, sondern bleibt ihr gewissermaßen äußerlich und unwesentlich. »Die Heiligkeit der Kirche [...] wird von den Sünden und Unzulänglichkeiten ihrer Glieder nicht geschädigt. Diese vermögen in keiner Weise die unerschöpfliche Güte des göttlichen Lebens zu vermindern oder aufzubrauchen, welche sich aus dem göttlichen Haupt der Kirche auf den ganzen Leib verströmt«, so schreibt der griechische Dogmatiker Johannes Karmiris in seiner Ekklesiologie *); und der rumänische Theologe Dumitru Staniloae vergleicht die Kirche mit »dem Teich Bethesda, der die Kranken heilt, von deren Krankheitskeimen jedoch nicht angesteckt wird, sondern sie zunichte macht.« *)
Im Bereich der katholischen Theologie hat es in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen zwei markante Äußerungen des kirchlichen Lehramtes gegeben, die neben der wesenhaften Heiligkeit der Kirche das Thema der Sündigkeit stärker in den Blick rückten:
Da ist an erster Stelle die Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils zu nennen, die in ihrer Nummer 8 bekennt, dass die Kirche »zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig« (sancta simul et semper purificanda) ist. Allerdings findet sich in den Dokumenten keine Stelle, an der die Kirche als solche explizit als sündig bzw. als »Sünderin« bezeichnet wird. So bleiben die Konzilsaussagen ambivalent, wenngleich sie der Sache nach wohl darum wissen, dass die Sünde in der Kirche eine Realität ist, die den Verantwortungs- und Wirkungskreis der einzelnen Individuen überschreitet. *) So sehr sich das Konzil ansonsten an der Theologie der Kirchenväter orientiert und sie zitiert, zur Frage der Sündigkeit der Kirche greift man nicht auf die offene Paradoxie der patristischen Symbolsprache zurück, die u. a. das kühne Wort der »keuschen Hure« (casta meretrix) geprägt hat.*)
Was lehramtliche Äußerungen aus der jüngsten Vergangenheit angeht, so ist an das Schuldbekenntnis und die Vergebungsbitte zu erinnern, die Papst Johannes Paul II. am Ersten Fastensonntag des Heiligen Jahres 2000 öffentlich-liturgisch im Namen der Kirche ausgesprochen hat. Bereits die Ankündigung dieses päpstlichen Vorhabens *) hatte für Diskussionen über den Sinn und die Tragweite eines solchen Bekenntnisses gesorgt. Die Internationale Theologische Kommission wurde im Vorfeld damit beauftragt, eine Interpretationshilfe zu erarbeiten, die dazu helfen sollte, diesen bis dahin in der Kirchengeschichte einmaligen Vorgang richtig einordnen zu können.
Wie sah nun die im Petersdom gefeierte Bußliturgie näherhin aus? Nach einem einleitenden Gebet durch den Papst und einem allgemeinen Schuldbekenntnis bekannten nacheinander sechs Kardinäle (1.) Verfehlungen im Dienst an der Wahrheit, (2.) Sünden gegen die Einheit des Leibes Christi, (3.) Schuld im Verhältnis zu Israel, (4.) Verfehlungen gegen die Liebe, den Frieden, die Rechte der Völker, die Achtung der Kulturen und Religionen, (5.) Sünden gegen die Würde der Frau und die Einheit des Menschengeschlechts, (6.) Sünden auf dem Gebiet der Grundrechte der Person. *)
Wenn auch die Formulierung der Vergebungsbitten sorgfältig darauf achtet, nicht die Kirche als solche als Subjekt der moralischen Verfehlungen erscheinen zu lassen, sondern die in ihr handelnden Personen, so zeigt doch der Vorgang insgesamt an, dass »man auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen [kann], besonders wenn sie von denen begangen wurden, die ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln.«*) Damit wird nicht das gesamte Handeln der Kirche als sündig qualifiziert, sondern es werden die negativen Auswirkungen beklagt, die ein schuldhaftes Handeln kirchlicher Repräsentanten auf die Entwicklung der Person und der menschlichen Gemeinschaft hatten.
Weniger spektakulär, aber nicht weniger weitreichend, hatte Papst Johannes Paul II. bereits in seiner Sozialenzyklika von 1987 auf die überindividuelle Dimension der Sünde hingewiesen. In dieser Enzyklika spricht er von »Strukturen der Sünde« *) und greift damit einen Begriff auf, der ursprünglich in der innerkirchlich stark umstrittenen Theologie der Befreiung Lateinamerikas beheimatet war. Schon in einem früheren Schreiben hatte der Papst denselben Sachverhalt weniger pointiert als »Situationen der Sünde« bzw. als »soziale Sünden« charakterisiert. *) Damit soll keinesfalls geleugnet werden, dass die moralische Verantwortung immer bei den handelnden Personen liegt und nicht abstrakt in Situationen oder Institutionen. Dennoch kann eine »Anhäufung« und »Zusammenballung vieler personaler Sünden« zu »bestimmten Verhältnissen« und »gewissen kollektiven Verhaltensweisen von mehr oder weniger breiten sozialen Gruppen« führen, dass man von Strukturen der Sünde sprechen kann. *) Solche Strukturen haben ihre Wurzeln in persönlich begangenen Verfehlungen.*) Doch einmal vorhanden, »verstärken und verbreiten sie sich und werden«, so sagt der Papst, »zur Quelle weiterer Sünden, indem sie das Verhalten der Menschen negativ beeinflussen.« *) Sollte die Kirche, die als »eine einzige komplexe Wirklichkeit [...] aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst«*) , tatsächlich von einer solchen Dynamik gänzlich befreit sein? Die kirchliche Erfahrung – gerade auch der letzten Monate - mahnt uns zur Skepsis.
Wenn wir an dieser Stelle kurz innehalten und das bisher Bedachte resümieren, so scheint es erlaubt (wenn nicht gar geboten), nicht nur von der Kirche zu sprechen, die zusammen mit den Heiligen auch Sünder »in ihrem eigenen Schoße umfasst« *) , also Kirche der Sünder ist, sondern auch von der sündigen Kirche zu sprechen. Denn Sünde - zumal da, wo sie von Repräsentanten der Kirche begangen wird oder gehäuft als ein bestimmtes Verhalten vieler auftritt – kann eine soziale oder gar »strukturelle« Qualität annehmen, die das Handeln des einzelnen Individuums übersteigt, ihm vorausliegt und es negativ beeinflusst.
Zugleich birgt die Rede von der sündigen Kirche freilich auch Gefahren, die beachtet sein wollen. Dies gilt besonders dort, wo ohne Rücksicht auf die notwendigen Differenzierungen in die außerkirchliche Öffentlichkeit hinein gesprochen wird. Ich möchte drei Gefahrenpunkte nennen:
Schauen wir nun noch auf die Rede von der heiligen Kirche.
Wenn wir in diesem Sinn die Heiligkeit der Kirche nicht als eine statische Qualität verstehen, die sie entweder besitzt oder verliert, sondern als Erwählung und Heiligung durch den Herrn, dann öffnet sich ein gelassenerer und zugleich mutigerer Blick auf das Problem der Sündigkeit der Kirche.
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In der Gründonnerstagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Kardinal Lehmann in einem ganzseitigen Beitrag zu unserem Thema noch einmal daran erinnert, dass die Ehebrecherin aus dem 8. Kapitel des Johannesevangeliums von den Kirchenvätern oft als Symbolgestalt der sündigen Kirche verstanden worden ist.*) Karl Rahner hat bereits anderthalb Jahrzehnte vor Beginn des II. Vatikanischen Konzils in seinem bekannten Artikel »Kirche der Sünder« diese Szene aus dem Johannesevangelium im Stil der Kirchenväter ekklesiologisch ausgemalt. Der Artikel endet mit den Sätzen: »In allen Jahrhunderten stehen neue Ankläger neben ›diesem Weib‹ Kirche und schleichen immer wieder davon, einer nach dem andern, von den Ältesten angefangen; denn es fand sich nie einer, der selbst ohne Sünde war. Und am Ende wird der Herr mit der Frau allein sein. Und dann wird er sich aufrichten und die Buhlerin, seine Braut anblicken und sie fragen: ›Frau, wo sind sie, die dich anklagten? Hat keiner dich verurteilt?‹ Und sie wird antworten in unsagbarer Reue und Demut: ›Keiner, Herr.‹ Und sie wird verwundert sein und fast bestürzt, dass keiner es getan hat. Der Herr aber wird ihr entgegengehen und sagen: ›So will auch ich dich nicht verurteilen.‹ Er wird ihre Stirn küssen und sprechen: ›Meine Braut, heilige Kirche.‹« *)