Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, liebe Eltern und Verwandten unserer Weihekandidaten, vor allem: liebe Weihekandidaten selbst!
Von der Liebe geleitet, die Wahrheit bezeugen: Dieses Schriftwort, das aus dem Epheserbrief stammt und das Sie sich als gemeinsamen Leitspruch für Ihre Priesterweihe gewählt haben, ist ein mutiges Wort. Denn in ihm ist von der Wahrheit die Rede. Wenn es um die Wahrheit geht, dann reagieren die allermeisten Menschen heute zurückhaltend. „Gibt es denn tatsächlich die Wahrheit?“, so wird gefragt. „Ist es nicht eher so, dass es so viele Wahrheiten gibt, wie es Menschen gibt? Wer wollte behaupten, die Wahrheit zu besitzen? Und hat nicht die Geschichte gezeigt, wie viel Unheil schon über die Welt gekommen ist, weil Menschen der Überzeugung waren, im Besitz der Wahrheit zu sein? Wie viele Glaubenskriege hat es deswegen schon gegeben. Wie viele Diktaturen wurden schon errichtet auf der Überzeugung, die alleinseligmachende Wahrheit zu kennen! Ist da nicht doch die Lösung zu favorisieren, die sagt: „Jeder soll nach seiner Façon und Wahrheit selig werden.“?
Wir kennen in uns die Vorsicht, und doch wollen wir nicht getäuscht werden. Wir wollen die Wahrheit wissen; haben den Wunsch, nicht bloß zurückgeworfen zu sein auf unser kleines Ich, nicht allein zu bleiben mit dem, was wir uns mit unserem begrenzten Horizont an Bildern und Erklärungen so zurechtlegen. Wir wollen wissen, wie es letztlich um unsere Welt und unser Leben steht. Wir fragen nach dem Sinn des Ganzen. Denn wir wollen unterscheiden können, zwischen richtig und falsch, zwischen Gut und Böse, zwischen dem, was dem Leben dient und was ihm schadet.
Diesem Wunsch kommt Jesus entgegen, wenn er vor Pilatus klipp und klar sagt: Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. (Joh 18,17) Damit sagt er: Ja, es gibt die Wahrheit. An anderer Stelle macht er seinen Auftrag und seinen Anspruch noch deutlicher: Ich selbst bin […] die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,6) Diese Wahrheit wollen unsere Weihekandidaten mit ihrem künftigen Dienst bezeugen.
Schauen wir deshalb noch etwas intensiver darauf, wie diese Wahrheit zu verstehen ist. Zunächst: Die Wahrheit, von der Jesus spricht, liegt in einer Person, in seiner Person. Das bedeutet: Die Wahrheit, die Jesus bezeugt und die er selbst ist, ist keine geheime Weltformel und auch keine Welterklärungs-Theorie, mit der man sich beschäftigt und in die man sich vertieft, um sie irgendwann zu begreifen. Vielmehr ist die Wahrheit Jesu von der Art, dass sie mich ergreift. Vor allem Begreifen steht nach unserem christlichen Verständnis das Sich-ergreifen-Lassen. Das war schon die Erfahrung des Apostels Paulus, der seinen Mitchristen sagt: „Ich bilde mir nicht ein, dass ich im Glauben schon alles begriffen oder erreicht hätte: Vielmehr strebe ich danach, es zu ergreifen, weil ich selbst von Christus Jesus ergriffen worden bin“ (vgl. Phil 3,12).
Liebe Schwestern und Brüder, unsere Weihekandidaten wären nicht hier, wenn sie nicht eine ähnliche Erfahrung wie Paulus gemacht hätten: Christus ist es, der sie mit seiner Frohen Botschaft und seiner Lebendigkeit ergriffen hat. Aber dieses von Ihm Ergriffenwerden ist nicht so, dass es den Menschen wegführen würde von sich, sodass er sich selbst nicht mehr versteht. Nein, im Gegenteil: Im Ergriffenwerden und Mich-ergreifen-Lassen durch Jesus und seine Botschaft, begreife ich den Sinn der Welt und meines Lebens viel besser.
Das ist nicht nur die Urerfahrung der priesterlichen Berufung. Es ist eigentlich die Urerfahrung des Christseins. Man kann nicht ein Leben lang Christin/Christ sein, ohne immer wieder auch die Erfahrung zu machen, dass mich Jesus und seine Botschaft faszinieren, berühren und ergreifen. Es mögen nur kurze Augenblicke sein, in denen mir aufblitzt: „Ja, was Jesus mit Worten und Zeichen sagt über die Welt, über Gott und die Menschen, über Anfang und Ende, über Leben und Tod, über Sinn und Ziel: Das ist wahr! Das leuchtet mir ein.“
Die Situationen, in denen ich das erfahre, mögen sehr unterschiedlich sein: Das kann in einem Gottesdienst geschehen, der mich berührt und in dem mich ein bestimmtes Wort trifft. Das kann in der Begegnung mit einem Menschen sein, der vielleicht nicht einmal ahnt, was er in mir auslöst. Das kann in der Stille eines persönlichen Gebetes geschehen … Mögen es herausgehobene Momente wie ein solcher Weihegottesdienst sein oder alltägliche Situationen, gemeinsam ist ihnen die Erfahrung der Ergriffenheit, die der Mensch als stark und machtvoll erfährt, aber nicht als gewalttätig.
Denn das zeichnet Gottes Wahrheit aus: Sie tut dem Menschen keine Gewalt an. Sie ist keine Wahrheit, die man einem Gegenüber wie einen nassen Waschlappen um die Ohren haut. Deshalb heißt es im Weihespruch: Von der Liebe geleitet die Wahrheit bezeugen. Wie könnte diese Wahrheit auch anders bezeugt werden, da ihr Kern ja die Liebe selbst ist: Die Liebe, die Gott zu uns Menschen und zu seiner Welt hat und die in Jesus sichtbar wird.
Der Priester hat dies zu bezeugen in seinem ganzen Dienst und mit seinem Leben. Der Priester ist beidem verpflichtet: der Wahrheit und der Liebe, weil Jesus in seiner Person beides ist. In ihm fällt immer beides zusammen. Da gibt es keinen Zwiespalt. Wir aber müssen immer wieder auch darum ringen, Wahrheit und Liebe zusammenzuhalten. Denn Liebe ohne Wahrheit ist blind. Sie ist leer, schlimmstenfalls verlogen. Die Wahrheit ohne Liebe aber wird kalt und hart und grausam. Papst Benedikt hat recht, wenn er sagt: „In dem Maße, in dem wir uns Christus nähern, verschmelzen auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe.“ (Missa pro eligendo, 18.4.2005)
Liebe Weihekandidaten, liebe Schwestern und Brüder! Lassen Sie uns kurz noch auf einen anderen Aspekt der Lesung schauen. In seinem Brief formuliert Paulus das Ziel seines apostolischen Dienstes: Er will, dass die Christen keine unmündigen Kinder sind, ein Spiel der Wellen, hin- und hergeworfen im Widerstreit der Meinungen, dem Betrug [den Fake News] der Menschen ausgeliefert … (Eph 4,14) Der Apostel sieht seinen Dienst darin, dass die Getauften mündige Christen werden. Das kommt uns ziemlich modern vor: Christen heute wollen mündige Christen sein. Für Paulus aber ist die Mündigkeit des Christen nicht dann erreicht, wenn dieser sich von der Kirche emanzipiert hat. Nein, der Christ bleibt auf die lebendige Gemeinschaft der Kirche angewiesen. Mündigkeit im Glauben heißt nicht, irgendwann autark zu sein und die Kirche wie eine überflüssige Brennstufe abzustoßen.
Christsein lässt sich nur leben in der lebendigen Verbundenheit der Glieder, der „Gelenke“ (Eph 4,16) im Leib Christi und im Miteinander der vielfältigen Aufgaben und Dienste. Zu diesen Diensten gehört unverzichtbar das priesterliche Amt, ohne das die Kirche nicht sein kann. Denn es hält in der Kirche das präsent, was wir uns trotz all unseren Begabungen und all unserem Einsatz nicht selbst geben können, sondern was uns nur Jesus Christus geben kann. Ebenso wenig können die Priester sein ohne die lebendige Verbindung zum Volk Gottes mit den vielen Charismen und Gaben, die es in diesem Volk gibt. Sowenig wie es autarke Christen geben kann, gibt es autarke Priester, die sich selbst genug sind. Ohne das Volk Gottes sind die Priester überflüssig.
Mündiges Christsein heißt also: Verwurzelt in Jesus Christus und eingebunden in seine Kirche, zu erkennen, worauf es ankommt. Denn in Christus und seiner Kirche sind uns die Wahrheit und die Liebe gegeben. Die helfen uns, standfest zu sein und offen und frei und den Menschen zugewandt.
Liebe Mitbrüder, die Ihr nun die Priesterweihe empfangt, habt keine Angst vor mündigen Christen, sondern helft, wie immer Ihr könnt, allen, zu denen ihr gesandt werdet, mündige Christen im Sinne des Paulus zu sein. Und Sie, liebe Schwestern und Brüder, bitte ich, die Priester in ihrem Dienst anzunehmen und sie das auch spüren zu lassen – nicht nur bei Primizen und Jubiläen. Denn sie halten uns die Quelle offen, aus der wir als Christen alle miteinander leben. Amen.