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Der lange Zeit in Bonn lebende und mehrfach kandidierende Guido Westerwelle prägte in den Jahren kurz vor der Jahrtausendwende und im ersten Jahrzehnt danach wie kein anderer den deutschen Liberalismus, gehörte zugleich aber auch zu den maßgeblichen Persönlichkeiten der bundespolitischen Szene in dieser Zeit. Seine über 30 Jahre währende politische Karriere wies einen steilen Aufstieg vom umtriebigen Jugendpolitiker bis zum Außenminister und Vizekanzler auf, auf den ein abrupter Absturz und ein vorzeitiger, durch eine schwere Erkrankung herbeigeführter Tod im Alter von 54 Jahren folgten.
Geboren am 27.12.1961 in Bad Honnef wuchs Westerwelle in für diese Zeit etwas ungewöhnlichen Familienverhältnissen auf: Sowohl der Vater Heinz (1930-2013) als auch die Mutter Erika (1930-2018) waren aus dem Lippischen ins Rheinland zugereiste Juristen und brachten jeweils einen Sohn aus früheren Beziehungen in die Ehe ein, aus der neben Guido Westerwelle noch ein jüngerer Bruder hervorgegangen ist. Als sie sich Anfang der 1970er Jahren scheiden ließen, siedelte der Vater, der nebenher Pferde züchtete und damit eine lebenslange Vorliebe des Sohnes auslöste, mit allen Söhnen nach Bonn über, wo er als alleinerziehender Strafverteidiger wirkte. Die schulische Entwicklung des zweitjüngsten Sohnes verlief nach dem Start auf einem Königswinterer Gymnasium über den „Umweg“ einer Realschule im Norden Bonns, ehe er 1980 am renommierten Bonner Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium das Abitur ablegte.
Entgegen eigenen Neigungen, die zu Kunst und Kunstgeschichte tendierten und ihn später zum ausgewiesenen Kenner zeitgenössischer Kunst werden ließen, nahm Westerwelle an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn ein Jurastudium auf, das er mit dem Ersten (1987) und Zweiten Staatsexamen (1991) abschloss. 1994 erwarb er mit einer Arbeit zum Parteienrecht an der Fernuniversität Hagen den Grad eines Dr. jur.
Dieser Studienerfolg war umso erstaunlicher, als Westerwelle fast zeitgleich mit dem Studienbeginn 1980 der FDP beigetreten war und sich dort sogleich stark engagiert hatte. Ein wichtiges Motiv dafür waren Erfahrungen als Schüler mit einem „Zeitgeist“, den er als Nachwirkung der studentischen Protestbewegung von 1968 wahrnahm. Dagegen wollte Westerwelle „bürgerliche“ Werte setzen, allerdings nicht in einer konservativ-rückwärtsgewandten, sondern liberal-pluralistischen Ausprägung.
Sein Kampf richtete sich anfangs vor allem gegen jene, die er als „68er“ ansah. Dafür standen für ihn in der FDP in erster Linie die „Deutschen Jungdemokraten“, die offizielle, aber nur lose verbundene Jugendorganisation der Partei. Westerwelle unterstützte tatkräftig den Aufbau eines neuen Jugendverbandes, der „Jungen Liberalen“. Bei diesen wurde er 1981 sowohl zum Bonner Kreisvorsitzenden als auch zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. 1983 übernahm er den Bundesvorsitz.
Das eröffnete auch deshalb Möglichkeiten zu einer politischen Karriere, weil die „Julis“ inzwischen nominell als FDP-Jugendorganisation anerkannt worden waren. Als führender Juli gab Westerwelle erste Kostproben seines medialen Talents und galt schnell als der Repräsentant der Jungen in der FDP, deren Bundesvorstand er seit 1988 angehörte. Auch wenn er Anfang der 1990er Jahre den Vorsitz der Bonner FDP übernahm und zu dieser Zeit bereits als Generalsekretär der Partei im Gespräch war, blieb es – auch ihm selbst - zunächst noch unklar, ob er sein Leben ganz der Politik widmen sollte. Denn 1991 ließ er sich als Sozius seines Vaters in Bonn als Anwalt nieder.
Ende 1994 berief ihn aber der FDP-Vorsitzende Klaus Kinkel (geboren 1936) in einer für die Partei schwierigen Situation zum Generalsekretär und gab damit den endgültigen Startschuss für eine rasante Karriere in der deutschen Politik; Westerwelle wurde nicht nur zum jüngsten, sondern auch zum am längsten amtierende Generalsekretär der Liberalen, der diese Position äußerst geschickt als Sprungbrett für seine weiteren politischen Ambitionen nutzte.
Das große Talent von Westerwelle, „der die Gesetzmäßigkeiten der Mediendemokratie kannte wie kaum ein anderer“ (Majid Sattar), lag neben seinen rhetorischen Fähigkeiten nicht zuletzt in seinem Umgang mit den Medien verschiedenster Art und seiner Meisterschaft zur Selbstdarstellung sowohl seiner Partei als auch seiner selbst. So verschaffte er der Erarbeitung eines neuen Parteiprogramms stärkere Aufmerksamkeit nach außen und breitere Akzeptanz nach innen, indem er in die Diskussion nicht nur die jungen Parteimitglieder, sondern auch die „Veteranen“ des als legendär geltenden „Freiburger Programms“ von 1971, namentlich dessen „Vater“ Werner Maihofer (1918-2009) integrierte.
Die „Wiesbadener Grundsätze“ von 1997 verhinderten zwar nicht einen weiteren Rückgang der FDP bei der Bundestagswahl 1998 und das Ausscheiden aus der Bundesregierung, aber sie boten eine gute Grundlage für das von Westerwelle – seit 1996 Mitglied des Deutschen Bundestags (MdB) - angestrebte Parteiprofil jenseits eines bloßen Mehrheitsbeschaffers für einen Kanzler der großen Parteien. Er griff dabei viele Elemente der sogenannten „Neoliberalismus“ auf, der seit längerem vor allem im angelsächsischen Raum diskutiert worden war, unter Magret Thatcher (1925–2013) und Ronald Reagan (1911-2004) dort auch Einfluss auf Regierungshandeln gefunden hatte und auf eine umfassende Zurückdrängung des Staates aus dem gesellschaftlichen Leben, speziell der Wirtschaft zielte.
Entsprechend legte der Generalsekretär und spätere Parteivorsitzende Westerwelle den Schwerpunkt auf eine Profilierung der FDP als wirtschaftsliberale Partei, die vor allem für alle gesellschaftlichen „Leistungsträger“ und die „Leistungsbereiten“ unabhängig von ihrem Status und Einkommen interessant sein sollte. Dieser Schwerpunkt sollte aber nicht zu Lasten der rechtsstaatlichen Prinzipien des Liberalismus und auch nicht seiner grundsätzlichen Pluralität hinsichtlich der Lebensstile gehen. Letzteres hatte sicherlich auch mit der homosexuellen Veranlagung Westerwelles zu tun, die er lange Zeit weder dementierte noch öffentlich machte. Erst 2004 kam es zu einem „Outing“, als er bei Angela Merkels 50. Geburtstag seinen Lebensgefährten, den Manager Michael Mronz (geboren 1967), offiziell vorstellte; 2010 gingen sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft ein.
Der in den 1990er Jahren ständig zurückgehende Wählerzuspruch für die FDP stabilisierte sich seit der Jahrtausendwende, insbesondere nachdem die Partei 2000 in Nordrhein-Westfalen einen fulminanten Wahlerfolg gefeiert hatte, der einer nicht unumstrittenen Kampagne des dortigen Landesvorsitzenden Jürgen W. Möllemann (1945-2003) entsprang. Im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl löste Westerwelle 2001 Wolfgang Gerhardt (geboren 1943) als FDP-Vorsitzenden ab. Der Wahlkampf selbst wurde von ihm mit medienwirksamen, „spaßigen“ Elementen geführt, wozu unter anderem ein „Guidomobil“, ein „Kanzlerkandidat“ Westerwelle und ein Wahlziel von 18 Prozent - die die FDP im Bund bis dahin nie erreicht hatte – gehörten. Überschattet wurde das Ganze jedoch durch eine erbitterte Auseinandersetzung mit Möllemann über die Strategie, wobei letzterer auch vor antisemitischen Tönen und dem Einsatz schwarzer Kassen nicht zurückschreckte. Westerwelle konnte sich zwar gegen Möllemann durchsetzen, aber das Wahlergebnis blieb weit hinter den Erwartungen zurück.
Als Konsequenz vollzog der nun weitgehend unangefochtene Parteichef Westerwelle eine strategische Wende, suchte die Nähe zur CDU und insbesondere zu deren Vorsitzender Angela Merkel. Eine Frucht dieser Zusammenarbeit war 2004 die Inthronisation von Horst Köhler (geboren 1943) als Bundespräsidenten gegen Widerstände in den eigenen Reihen und gegen die amtierende Regierung von SPD und Grünen. Für die Bundestagswahl 2005, die wegen des Koalitionswechsels in Nordrhein-Westfalen vorgezogen wurde, legte Westerwelle seine Partei eindeutig auf eine Koalition mit der CDU fest. Zu dieser kam es aber trotz erheblicher Zugewinne der Liberalen nicht; stattdessen wurde Merkel Chefin einer Großen Koalition, da Westerwelle am Wahlabend bei einem legendären Fernsehauftritt ein alternatives Zusammengehen mit der bisherigen Koalition, die ihre Mehrheit verloren hatte, ablehnte.
Dieses Festhalten an der Wahlaussage führte trotz des abermaligen Scheiterns hinsichtlich einer Regierungsbeteiligung mittelfristig zu einem Imagegewinn des teilweise als „Spaßpolitiker“ abgetanen Westerwelle. Seit 2006 auch Vorsitzender der Bundestagsfraktion und damit Oppositionsführer arbeitete er weiter an seinem Doppelziel einer „bürgerlichen“ Regierungsmehrheit mit starkem liberalen Einfluss. Ein zentrales strategisch-programmatisches Element war dabei die Forderung nach einer umfassenden Steuerreform zur Entlastung der Bürger. Dieses Konzept schien völlig aufzugehen, denn 2008/2009 schnitt die FDP bei etlichen Landtagswahlen und der Europawahl herausragend ab, eine Entwicklung, die schließlich im September 2009 in das beste Bundestagswahlergebnis der Partei überhaupt mündete.
In der nun möglichen CDU-FDP-Regierung übernahm Westerwelle, der bislang eindeutig als Innenpolitiker hervorgetreten war, auf Rat von Hans-Dietrich Genscher (1927-2016) das Außenamt und die Vizekanzlerschaft. Mit ihm wurden fünf Liberale Regierungsmitglieder, soviel wie zuletzt 1990. Allerdings gelang es der FDP wegen der inzwischen eingetretenen globalen Finanzkrise, von der gerade Europa stark betroffen war, nur sehr bedingt, die vehement geforderte Steuerreform im Koalitionsvertrag zu verankern. Dass hier in der Folgezeit erkennbare Schritte ausblieben, schmälerte stark die Glaubwürdigkeit von Westerwelle und seiner Partei, deren Umfragewerte ab Anfang 2010 regelrecht einbrachen. Verstärkt wurde diese Tendenz durch ungeschickte Äußerungen Westerwelles zum Sozialstaat. Nach etlichen Niederlagen bei Regionalwahlen wurde der innerparteiliche Druck so groß, dass Westerwelle im April 2011 den Parteivorsitz ab- und das Vizekanzleramt seinem Nachfolger, Wirtschaftsminister Philipp Rösler (geboren 1973), übergab.
Seitdem konzentrierte er sich weitgehend auf die Außenpolitik, bei der er bis dahin auch nicht unumstritten agierte hatte. Vor allem die von ihm durchgesetzte deutsche Abstinenz gegenüber einem direkten Eingreifen in den libyschen Bürgerkrieg wurde kritisiert, auch wenn sich mittelfristig zeigen sollte, dass Westerwelles Vorbehalte nicht unbegründet gewesen waren. Andererseits unterstützte er demonstrativ die Demokratiebewegung in der arabischen Welt und in Osteuropa und suchte den direkten Kontakt zu deren Vertretern, beispielsweise in Ägypten und in der Ukraine. Auch bekämpfte Westerwelle eine zunehmende Europa-Verdrossenheit und verhalf durch sein Engagement bei einem Mitgliederentscheid den Euro-Befürwortern in der eigenen Partei zur Mehrheit. Sein ursprüngliches Kalkül, nach dem Vorbild von Genscher über die Außenpolitik stark an Sympathiewerten zuzulegen, erwies sich jedoch als unrealistisch. Den dramatischen Absturz der FDP zwischen 2009 und 2013, der zum parlamentarischen Aus auf Bundesebene führte, konnte auch der „Außenpolitiker“ Westerwelle nicht aufhalten.
Die verlorene Bundestagswahl bedeutete für ihn den Verlust des Amtes und des Mandats und hatte einen weitgehenden Rückzug aus der Politik zur Folge. Ein mögliches Comeback wurde Mitte 2014 durch den Ausbruch einer Leukämie-Erkrankung verhindert, die seine letzte Lebenszeit bestimmte. Den Umgang damit machte er bald öffentlich, unter anderem durch ein Buch, in dem er seine Krankheit und sein politisches Schicksal verarbeitete. Soweit es ihm möglich war, versuchte er auch in dieser Phase für seine politischen Werte zu werben. Dazu diente auch eine Ende 2013 gemeinsam mit einem befreundeten Unternehmer gegründete „Stiftung für internationale Verständigung“, die vor allem junge Talente aus der Dritten Welt fördert.
Nach seinem Tod am 18.3.2016 wurde Westerwelle auf dem Kölner Melaten-Friedhof beigesetzt. Darin kam auch die große Verbundenheit von ihm, der vor allem als Bundespolitiker bekannt war, mit seiner rheinischen Heimat zum Ausdruck. Bei einer Rede, die er im Zuge des Regierungsumzuges von Bonn nach Berlin gehalten hatte, wurde von ihm die Wiege des Liberalismus im rheinischen Vielvölkergemisch ausgemacht und apodiktisch festgestellt: „Liberalismus ist rheinisch!“ Entsprechend war er auch auf die Verleihung des Aachener Karnevalordens „Wider den tierischen Ernst“ im Jahr 2001 besonders stolz. Posthum wurde die ehemalige Viktoriabrücke in Bonn am 10.4.2024 zur "Guido-Westerwelle-Brücke" umbenannt.
Veröffentlichungen (Auswahl)
(Hg.) Von der Gefälligkeitspolitik zur Verantwortungsgesellschaft. Wiesbadener Grundsätze für die liberale Bürgergesellschaft, Düsseldorf 1997.
Neuland. Einstieg in einen Politikwechsel, Düsseldorf 1998.
Richtung Freiheit, in: Gerhardt, Wolfgang (Hg.), Die Kraft der Freiheit. Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Liberalismus , Stuttgart/Leipzig 2008, S. 216-230.
(zusammen mit Dominik Wichmann) Zwischen zwei Leben. Von Liebe, Tod und Zuversicht, Hamburg 2015.
Literatur
Sattar, Majid,„… und das bin ich!“ Guido Westerwelle. Eine politische Biografie, München 2009.
Treibel, Jan, Die FDP. Prozesse innerparteilicher Führung 2000-2012, Baden-Baden 2014.
Online
Biogramm im Web-Archiv des Deutschen Bundestages. [Online]
Webseite der Westerwelle Foundation. [Online]
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Frölich, Jürgen, Guido Westerwelle, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/guido-westerwelle/DE-2086/lido/57c92d61539e35.61103609 (abgerufen am 19.08.2024)