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Liselott Diem war in der Mitte der 1920er Jahre eine der ersten Sportstudentinnen im Deutschen Reich. Von 1927 bis 1933 lehrte sie an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin und zwischen 1947 und 1974 an der Sporthochschule in Köln. Sie setzte sich auf nationaler wie internationaler Ebene für die Gleichberechtigung des Frauensports ein und zählt mit über 1.000 Publikationen zu den prägenden Persönlichkeiten der Sportwissenschaft im 20. Jahrhundert.
Liselott Diem wurde am 18.9.1906 als Tochter des Regierungsassessors und späteren Ministerialdirektors Ernst Bail und dessen Ehefrau Mina Goerlach in Wiesbaden geboren. Nachdem sie bis 1922 Schülerin am Bismarck-Lyzeum in Berlin gewesen war, besuchte sie bis 1923 die Frauenschule in Stanowitz (Schlesien) und im Anschluss bis 1924 die Höhere Handelsschule in Berlin-Steglitz. 1924 immatrikulierte sich die begeisterte Leichtathletin an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin zum Studium der Sportwissenschaften. Im Jahr 1927 bestand sie die Diplomprüfung zur Sportpädagogin, als bester Absolventin ihres Jahrganges wurde ihr die August-Bier-Plakette verliehen.
Seit ihrer Jugend setzte sie sich bewusst über gesellschaftliche Normen hinweg, wenn diese ihren emanzipatorischen und gesellschaftsreformerischen Vorstellungen widersprachen. Dies galt in besonderem Maße auch für den Sport, der in der überwiegenden Zahl seiner Disziplinen als Männerdomäne galt. Noch als Studentin wohnte sie an der Spitze einer Gruppe von gleichgesinnten Studentinnen an der Abschlussveranstaltung der Deutschen Kampfspiele des Jahres 1926 in Köln bei, obwohl Frauen der Zugang zu diesen offiziell untersagt war. In praktischer Hinsicht erwies sie sich unter anderem als ambitionierte Ruder- und Skisportlerin. Ihre Vielseitigkeit stellte sie auch als begeisterte Motorradfahrerin unter Beweis.
Zeitlebens erwies sie sich als eine energische und unermüdliche Vorkämpferin für die Gleichberechtigung des Frauensports. Öffentliche Bekanntheit erlangte sie dabei unter anderem als Delegierte der deutschen Reichsregierung während des Internationalen Frauenturnfestes von 1929 in Helsinki, bei der sie eine vielbeachtete Vertreterrede hielt. Während sich ihr diesbezügliches Betätigungsfeld zunächst auf das Deutsche Reich und nachfolgend auf die Bundesrepublik Deutschland und die europäischen Länder erstreckte, wirkte sie in der zweiten Hälfte ihres Lebens auch in Asien und vor allem in den südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien und Venezuela.
Im Anschluss an das erfolgreich abgeschlossene Studium wurde Liselott Diem 1927 von ihrer Hochschule als Lehrerin für „Frauenausbildung“ übernommen. Im Rahmen ihrer nachfolgenden sechsjährigen Tätigkeit zeichnete sie dabei nicht nur für die konzeptionelle Weiterentwicklung des Frauenstudiums, sondern unter anderem für eine methodische und didaktische Neuausrichtung der Turnlehrerausbildung im Deutschen Reich verantwortlich.
An der Hochschule für Leibesübungen lernte sie den hochrangigen Sportfunktionär und stellvertretenden Rektor Carl Diem kennen, den sie am 12.2.1930 heiratete. Aus der Ehe gingen vier Kinder, die Töchter Gudrun (geboren 1931), Irminhilt (geboren 1932) und Karin (geboren 1941) sowie der Sohn Carl-Jürgen (geboren 1935), hervor. Bis zum Tode ihres Ehemanns agierte sie zumeist in dessen Schatten, gewann aber auf sein Schaffen einen hohen, von der Öffentlichkeit mitunter unterschätzten Einfluss. An der Genese und Etablierung der Sportwissenschaften im 20. Jahrhundert war das Ehepaar Diem durch sein erfolgreiches Zusammenwirken maßgeblich beteiligt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten zog für die aufgrund ihrer väterlichen Stammlinie als „jüdisch versippt“ eingestufte Liselott Diem und ihren Ehemann zunächst die Entlassung aus ihren Ämtern an der Berliner Hochschule am 1.5.1933 nach sich. Als Ehefrau eines international hoch angesehenen Vertreters des deutschen Sports, auf dessen Kooperation das Regime nicht verzichten wollte, erhielt sie jedoch die Gelegenheit zu einer Weiterbildung an der Günther-Schule Berlin-München und zum Erwerb der Lehrbefähigung für musisch-rhythmische Körperbildung. Bis 1945 war sie an verschiedenen Lehreinrichtungen im Raum Berlin beschäftigt und unterstützte ihren Ehemann auch bei dessen Vorbereitungen für die Olympischen Spiele des Jahres 1936. Mehr als drei Jahrzehnte später war sie als offizielles Mitglied des Organisationskomitees auch an der Planung der Olympischen Sommerspiele des Jahres 1972 in München beteiligt.
Die Wirren und vielfältigen Gefahren der letzten Kriegswochen und der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebte die Familie Diem in Berlin. Liselott Diem arbeitete als Sportlehrerin an der Waldoberschule Berlin-Eichkamp und gehörte zwischen 1946 und 1947 der Lehrplankommission „Leibeserziehung“ im Stadtbezirk Berlin an. Als ihrem Ehemann der Aufbau und die Leitung der Sporthochschule Köln übertragen wurden, übersiedelte die Familie im April 1947 in das Rheinland. Liselotte Diem wurde Lehrerin für „Frauenausbildung“ an der Sporthochschule und hatte diese Funktion bis 1965 inne, ehe sie am 19.2.1965 habilitiert und auf den Lehrstuhl für „Didaktik und Methodik der Leibeserziehung“ berufen wurde. Zwischen 1967 und 1969 fungierte sie darüber hinaus als Rektorin und zwischen 1969 und 1971 als Prorektorin der Sporthochschule. Sie gilt weltweit als eine der ersten Frauen, die eine vergleichbare Position ausfüllten. Im Jahr 1967 wurde ihr in den USA der Ehrendoktor des Springfield-Colleges im Staat Massachusetts verliehen.
Nach dem Tod ihres Ehemannes am 17.12.1962 gründete sie im Jahr 1964 das Carl-Diem-Institut, eine Einrichtung zur Forschung über die Geschichte der Sportbewegung und der historische Entwicklung des olympischen Gedankens. Es zählt heute zu den führenden Sportarchiven weltweit. Die Leitung des Instituts hatte sie selbst bis zum Jahr 1989 inne. Auch auf die weitere Entwicklung der Sporthochschule Köln nahm sie im Sinne der Vorstellungen Carl Diems starken Einfluss. Sie hatte wesentlichen Anteil daran, dass die Einrichtung am 7.4.1970 durch das Land Nordrhein-Westfalen in den Rang einer wissenschaftlichen Hochschule erhoben wurde.
Nach ihrer Emeritierung im Jahr 1974 engagierte sie sich unter anderem im Rahmen der Sportentwicklungshilfe, wobei ihr besonderes Augenmerk auch hier auf die Förderung und gesellschaftliche Anerkennung des Frauensports gerichtet war. Sie fungierte auch als Präsidentin des Weltrates für Leibeserziehung für Frauen und Mädchen. Bis 1978 gehörte sie dem Direktorium des Bundesinstituts für Sportwissenschaft an, an dessen Gründung im Jahr 1970 sie ebenfalls maßgeblich beteiligt war. Ihr Beitrag zur Entwicklung einer eigenständigen Sportwissenschaft lässt sich nicht zuletzt an der Fülle von über 1.000 veröffentlichten Schriften ermessen, die in insgesamt 15 Sprachen übersetzt wurden.
Zeitlebens engagierte sie sich für die Interessen des Breiten- und Freizeitsports, in dem sie die Grundlage einer gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsförderung sah. Ein inhaltlicher Schwerpunkt ihres Wirkens bildete deshalb auch die konzeptionelle Entwicklung des Sportunterrichts für Kinder im Vorschulalter, wobei sie unter anderem die Idee des Babyschwimmens begründete. Wichtige und nachhaltige Impulse setzte sie auch im Bereich des Behinderten- und des Seniorensports.
Am 30.10.1986 erhielt sie, unter anderem in Gegenwart des Präsidenten des NOK Willi Daume, aus den Händen des IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch (1920-2010) den Olympischen Orden verliehen. Unter den zahlreichen weiteren Ehrungen sind hervorzuheben die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und der Goldenen Medaille der Sporthochschule Köln. Sie war Trägerin des höchsten Sportordens Venezuelas und stand mit ihrem Namen Pate für den in Brasilien gestifteten Liselott-Diem-Preis.
Liselott Diem starb am 25.4.1992 in Köln. Ihr Nachlass wurde in die Verantwortung des Carl Diem-Instituts übergeben, welches noch im gleichen Jahr in die Deutsche Sporthochschule als „Carl und Liselott Diem Archiv – Olympische Forschungsstätte der Deutschen Sporthochschule Köln“ integriert wurde.
Werke
Die Bedeutung der Leibesübungen für die berufstätige Frau, Berlin 1927.
Ausgleichsgymnastik und Schulsonderturnen, Frankfurt a.M. 1961.
Vernünftige Leibeserziehung, Frankfurt a.M. 1962.
Frau und Sport. Ein Beitrag zur Frauenbewegung, Freiburg 1980.
Fliehen oder bleiben? Dramatisches Kriegsende in Berlin, Freiburg 1982.
Die Gymnastikbewegung. Ein Beitrag zur Entwicklung des Frauensports, Sankt Augustin 1991.
Literatur
Lennartz, Karl, Leben als Herausforderung, 3 Bände, Sankt Augustin 1986.
Mester, Joachim/Lennartz Karl (Hg.), Das Leben war für sie eine Herausforderung. Ansprachen gehalten anläßlich der Trauerfeier für Liselott Diem am 05.05.1992 in der Deutschen Sporthochschule Köln, Köln 1992.
Online
Chronik der Deutschen Sporthochschule Köln, Homepage der Deutschen Sporthochschule Köln. [Online]
Karl und Liselott Diem Archiv, Homepage mit Informationsangebot über Biographie, Publikationen und Archivalien. [Online]
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Thomann, Björn, Liselott Diem, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/liselott-diem-/DE-2086/lido/57c693c45fdb29.87268282 (abgerufen am 19.08.2024)