Zeitzeugengespräch anlässlich des 50. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer
Am 16.08.2011 trafen sich in unserer sehr schön renovierten und technisch hervorragend ausgestatteten Aula anlässlich des 50. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer am 13.08.1961 die Schüler der Jahrgangsstufen 12 und 13, um Geschichte einmal anders zu erleben. Es sollte ein sehr spannender Vormittag werden.
VON THORSTEN WAGNER, HEINRICH-HEINE-GYMNASIUM, KAISERSLAUTERN
Der Fachbereich Geschichte hatte für diesen Tag drei Zeitzeugen zum Thema Mauerbau bzw. Leben in der DDR mit der Mauer eingeladen. Nach einer kurzen Einführung ins Thema, die von einer Powerpoint-Präsentation mit einer Reihe berühmter Photographien illustriert wurde, wurde eine zehnminütige Filmsequenz gezeigt, um den historischen Kontext, der zum Bau der Berliner Mauer geführt hat, angemessen darzustellen.
Die große Bedeutung von Zeitzeugen als lebendige historische Quelle hat danach Benedikt Bichler, Schüler der Jahrgangsstufe 13, sehr eindrucksvoll dargestellt. Dermaßen gut vorbereitet und über die Hintergründe informiert, konnten nun die Vorträge der Zeitzeugen beginnen.
Zunächst schilderte Herr Buchholz, wie er als Jugendlicher in den 40er- und 50er-Jahren in Berlin-Britz, das damals zu Ost-Berlin gehörte, die Vorgeschichte des Mauerbaus wahrgenommen hat. Herr Buchholz ging damals im Westteil der Stadt zur Schule, musste aber täglich über die noch offene Sektorengrenze gehen. Nachdrücklich zeichnete er das Bild zunehmender Kontrollen entlang der Sektorengrenze und der erstmaligen völligen Abriegelungen West-Berlins während der Blockade 1948/49 und während des Volksaufstands in der DDR und in Ost-Berlin am 17.Juni 1953. Deutlich zeigte sich das Bild einer Familie, die zunehmend unter Druck gesetzt wurde, ihre Kinder in den Ostteil der Stadt umzuschulen. Repressalien am Arbeitsplatz der Mutter bis hin zu deren Verhaftung, Bespitzelung durch die Staatssicherheit (Stasi) und, so sollte sich später für die Familie herausstellen, durch Familienmitglieder und Nachbarn. Das System der Bespitzelung, das durch die Stasi im Verlauf der weiteren Geschichte der DDR perfektioniert wurde, war also bereits in den 50er-Jahren Kennzeichen des Lebens im sozialistischen Machtbereich. Herr Buchholz ist in der Rückschau glücklich und dankbar, dass seine Familie noch rechtzeitig vor dem Bau der Mauer in den Westteil der Stadt geflohen ist.
Frau Ellmenreich und Frau Große berichteten im Anschluss an diesen Beitrag zur Vorgeschichte des Mauerbaus von den Folgen dieses Ereignisses und vom Leben in der DDR.
Frau Ellmenreich, heute Pfarrerin in Mainz, wurde als kleines Kind in den 50er-Jahren in der Schule mit sagenhaft schönen Geschichten vom Leben im Kommunismus konfrontiert. Die Indoktrination zeigte bei ihr, so hat sie es später selbst analysiert, großen Erfolg. Sie lehnte es z.B. ab, am 12.08.1963 – einen Tag vor dem Bau der Mauer – mit Ihrer Mutter nach West-Berlin zum Einkaufen zu fahren, da das doch verboten sei. Voller Verwunderung hörte sie am folgenden Tag vom Beginn des Baus einer Mauer quer durch die Stadt entlang der Sektorengrenze, von dem noch wenige Stunden vor Beginn der Maßnahme nicht der geringste Hinweis wahrnehmbar war. In den folgenden Jahren folgten eine Reihe an Enttäuschungen über das Leben in der DDR, die ihr verdeutlichten, dass die sagenhaften Geschichten des ach so großartigen Kommunismus nur Propaganda gewesen waren. Frau Ellmenreich verlor die Hoffnung auf Besserung des Lebens in der DDR, zumal für sie erste Erfahrungen mit der Stasi und dem Fehlen von Freiheiten, v.a. von Meinungsfreiheit, allmählich unerträglich wurden. Zunehmend engagierte sie sich in den 70er-Jahren in der sogenannten Jungen Gemeinde, einer kirchlichen Protestbewegung, die die DDR reformieren wollte und gegen Menschenrechtsverletzungen im Staat protestierte. Im Zusammenhang mit diesen Protesten wurde sie in hochschwangerem Zustand zusammen mit ihrem Freund, Matthias Domaschk, von der Stasi verhaftet. Berichtet wurde in diesem Zusammenhang von der brutalen und menschenverachtenden Vorgehensweise bei Verhören und im Gefängnis, wo ihr Freund am 12.04.1981 als 24-Jähriger ums Leben kam.
Die Umfrage unter unseren Schülerinnen und Schülern vor der Veranstaltung hatte ergeben, dass u.a. die Frage nach Vertrauen und Misstrauen in der DDR, in der die Stasi eine entscheidende Rolle gespielt hatte, von besonderem Interesse war. Frau Großes Schilderungen konnten dieses Thema weiter erhellen, da auch ihre Biografie von Verrat und Vertrauensbrüchen geprägt ist, was in einer über 3000-Seiten starken Stasi-Akte über sie zum Ausdruck kommt. Mehrmals wiederholten sich in den Schilderungen aller Zeitzeugen die Aussage, „die wussten sowieso alles“, wobei mit „die“ die Staatssicherheit gemeint war.
Sehr eindrucksvoll schilderte Frau Große, wie sie durch scheinbar belanglose Verhaltenweisen ins Visier der Stasi geraten war. Sie interessierte sich für die Beatles, hing keine DDR-Flagge zu besonderen Anlässen aus dem Fenster und nahm nicht an angeordneten Demonstrationen teil. Da sie zudem eine holländische Freundin hatte und sich kritisch gegenüber der DDR-Regierung äußerte, musste sie ständig mit Repressalien am Arbeitsplatz und gegenüber ihrer Familie rechnen. Als die jüngstgeborene Tochter einen holländischen Vornamen bekommen sollte, lehnte das Standesamt dies mit dem Hinweis ab, es gebe auch genug russische Namen, wenn es schon ein ausländischer Name sein müsse. Die Ablehnung des Systems durch Frau Große manifestierte sich so weiter. Der Wunsch, mit ihrer Familie in Freiheit leben zu können, wurde immer stärker und führte letztlich zum Stellen eines Ausreiseantrages in die Bundesrepublik. Um dieses Anliegen durchzusetzen, versuchte die Familie sogar Kontakt mit der Staatsführung aufzunehmen und setzte alles Mögliche in Bewegung. Obwohl die Familie vollständig im Rahmen der Gesetze agierte, wurde Frau Große von der Stasi verhaftet und nach 15-monatiger Haft durch die Bundesrepublik freigekauft. Für Frau Große bedeutete dies, dass sie zunächst nichts über den Verbleib ihrer Familie wusste. Die damit verbundene Angst wurde dadurch gesteigert, dass Frau Große ähnliche Schicksale kannte, bei denen die Kinder in Heime gebracht wurden und die Eltern diese nie wieder zu sehen bekamen. Dieses Schicksal blieb ihr erspart, da die Familie später ebenfalls geschlossen in den Westen ausreisen durfte. Es war Frau Große ein Anliegen zu betonen, dass sie auch heute noch außerordentlich glücklich ist, in Freiheit leben zu können.
Nachdem die 4 überaus kurzweiligen Schulstunden – und 10 Minuten „Verlängerung“ - mit einem großen Dank an unsere Gäste für ihr Kommen, unser junges Publikum für seine Aufmerksamkeit und an Herrn Möller für die perfekte technische Unterstützung und Abwicklung vergangen waren, bildeten sich sofort große Schülertrauben um die Zeitzeugen. Die Gespräche hätten noch viel länger fortgeführt werden können, da die offenen Fragen einfach nicht ausgehen wollten. Angesichts der Tragweite des Themas und der geschilderten Einzelschicksale kann dies auch nicht verwundern.
Im Nachgespräch mit den Zeitzeugen haben diese sich sehr lobend über ihr sehr aufmerksames und neugieriges Publikum geäußert, wobei nicht unterschlagen werden sollte, dass Ausnahmen natürlich auch hier die Regel bestätigen.
Ein erstes Feedback von Seiten der Schüler aus diversen Kursen der Jahrgangsstufen 12 und 13 runden den positiven Eindruck ab. Die klare Botschaft an den Fachbereich ist es, auch künftigen Schülerjahrgängen ähnliche Angebote zu machen.
Für den Fachbereich darf ich sagen, dass wir diese Rückmeldung gerne aufnehmen und auch in Zukunft beherzigen werden.