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Synagogen in Bayerisch Schwaben
Kempten (Kreisstadt,
Bayern)
Jüdische Geschichte / Synagoge
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In Kempten lebten einzelne Juden bereits im Mittelalter. Sicher genannt
werden jüdische Einwohner in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. 1373
wurde der Stadt von Karl IV. u.a. das Recht des Judenschutzes auf 6 Jahre gewährt.
1401 war kein jüdischer Einwohner in der Stadt. 1409 wurde der Jude Lazarus als
Bürger aufgenommen. Auch 1414 waren Juden in der Stadt, da König Sigismund in
diesem Jahre die hiesige Judensteuer in Höhe von 280 fl. dem Herzog Rudolph von
Sachsen verschrieb. Nach 1561 war die Niederlassung der Juden in Kempten
nicht mehr erlaubt.
Ende des 17. Jahrhunderts (1692) wurde der aus Ansbach
stammende jüdische Hoffaktor Mayr Seligmann mit seiner Familie für einige
Jahre in der Stadt aufgenommen. Er starb jedoch bereits 1698. Mayr Seligmanns
Haus stand in der heutigen Herbststraße, die lange Zeit "Judengasse"
hieß.
Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Niederlassung von Juden
in der Stadt wieder möglich. Einer der ersten war ab 1856 der königliche
Bataillonsarzt Dr. David Ullmann. 1869 folgten die drei Bankiers Nathan und
Hermann Ullmann (aus Osterberg) sowie Moritz Löb Einstein. Seitdem entwickelte
sich - durch Zuwanderung vor allem aus schwäbischen "Judendörfern"
(u.a. Altenstadt, Fellheim,
Osterberg)
die Zahl der jüdischen Einwohner wie folgt: 1871 37 jüdische Einwohner
(0,3 % von insgesamt 11.223 Einwohnern), 1880 72 (0,5 % von 13.872), 1890 62,
1900 68 (0,4 % von 18.864), 1910 91.
Die jüdischen Familien waren alsbald im Leben der Stadt integriert. Der langjährige
Vorsteher der jüdischen Gemeinde (von 1913 bis 1942) Sigmund Ullmann war
von 1912 bis 1919 Magistratsrat und von 1922 bis 1925 Mitglied im Stadtrat und
wirkte in zahlreichen Ausschüssen der Stadt mit. Einige der jüdischen Familien
eröffneten Fachgeschäfte für Bekleidung und Möbel in der Stadt, auch der
Handel mit Käse und Vieh wurde betrieben. Einer der führenden Viehhändler in
der Region war Albert Löw.
An Einrichtungen hatte die jüdische Gemeinde eine Synagoge (s.u.), eine
Religionsschule und einen Friedhof.
Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war seit 1897 für einige Jahre
ein Lehrer angestellt, der auch als Vorbeter und Schochet tätig war. Dieser
Lehrer war Ahron Rosenblatt, mit dem die Gemeinde allerdings nicht zufrieden
war. Später erteilten auswärtige Lehrer den Religionsunterricht (Lehrer
Hermann Rose aus Altenstadt).
Die Gemeinde gehörte zum Distriktsrabbinat Ichenhausen.
Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde: Siegfried Reis
(geb. 18.8.1892 in Kempten, gef. 27.4.1918) und Unteroffizier Anton Walter (geb.
12.8.1892 in Kempten, gef. 6.4.1918). Auf den Kriegerdenkmälern der Stadt
Kempten ist keiner der jüdischen Gefallenen verzeichnet. Auf dem jüdischen
Friedhof in Kempten erinnert jedoch ein Grabstein an Siegfried Reis, der in
seiner Heimatstadt begraben werden konnte. Außerdem ist gefallen: Unteroffizier
Manfred Marx (geb. 3.10.1892 in Kempten, vor 1914 in Bingen wohnhaft, gef.
10.1.1920).
Bereits mit dem Jahr 1919 setzte die antisemitische Hetze in der
Stadt ein (Flugblätter, zunehmende öffentliche Diffamierungen).
Um 1924, als zur Gemeinde 56 Personen gehörten (0,3 % von 21.874), waren
die Gemeindevorsteher Sigmund Ullmann, Oskar Hauser, Leopold Löw und Hans
Liebenthal. Den Religionsunterricht der damals sieben schulpflichtigen Kinder
der Gemeinde erteilte Frau Hedwig Hauser. 1932 waren die
Gemeindevorsteher (weiterhin) Sigmund Ullmann (1. Vors., Immenstädter Straße),
Oskar Hauser (2. Vors., Fürstenstraße) und Leopold Löw (3. Vors., Bahnhofstraße).
Als Lehrer der Kinder der Gemeinde und für weitere religiöse Aufgaben kam seit
1930 (siehe Bericht unten) regelmäßig Lehrer Emil Liffgens aus Memmingen
nach Kempten. Im Schuljahr 1931/32 hatte er in Kempten fünf Kinder zu
unterrichten.
1933 wurden 50 jüdische Einwohner gezählt. Auf Grund der Folgen des
wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien ist
ein Teil von ihnen in der Folgezeit aus der Stadt verzogen. Beim Novemberpogrom
1938 kam es zu einzelnen Ausschreitungen gegen die jüdischen Einwohner
(Fenster eingeworfen, Häuser und Wohnungen durchsucht), die jüdischen Männer
wurden verhaftet, drei von ihnen in das KZ Dachau verschleppt. Am 17. Mai 1939
wurden noch 25 jüdische Einwohner gezählt. 14 der letzten 20 jüdischen
Einwohner wurden 1942 deportiert (zuletzt vor allem in dem sogenannten
"Judenhaus" in der Immenstädter Straße 20 wohnhaft; Haus Ullmann):
zehn am 31. März 1942 über München nach Piaski bei Lublin, vier am 10. August
1942 in das Ghetto Theresienstadt. Sechs in sogenannter "Mischehe"
lebende jüdische Personen konnten in der Stadt bleiben, doch wurden drei von
ihnen noch am 22. Februar 1945 gleichfalls in das Ghetto Theresienstadt
verbracht.
Von den in Kempten geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen
Personen sind in der NS-Zeit umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Moritz Eisenstein
(1904), Elise Goldschmidt geb. Rosenthal (1868), Hedwig Hauser geb. Tennenbaum
(1884), Oskar Hauser (1888), Irmgard (Irma) Heilbronner geb. Lebrecht (1879),
Bella Kleeblatt (1902), Marta Kleeblatt (1904), Hedwig Kohn (1885), Julius Kohn
(1880), Mathilde Kohn geb. Laudenbacher (1858), Edith Landauer (1891), Elsa
Liebenthal (1895), Gertrud Liebenthal (1889), Wilhelm Liebenthal (1880), Irene
Linz geb. Reiss (1889), Rosa Löw geb. Hammel (1879), Siegfried Mayer (1895),
Martha Neustädter (1888), Cilli Scher (1921), Leopold Schwabacher (1899),
Siegfried Sichel (1910), Julius Traub (1870), Irma Ullmann (1887), Sigmund
Ullmann (1854), Louis Victor (1880), Albert Vogel (1882), Julie Walter geb.
Schmal (1869), Samuel Walter (1853), Josef Wassermann (1875), Rosl Wertheimer
geb. Ullmann (1890).
Ein Gedenkstein für die Opfer des Holocaust in Kempten und Mahnmal für
die Opfer des Nationalsozialismus steht auf dem Friedensplatz am Stadtpark. Seit
Sommer 2010 erinnern "Stolpersteine" an ehemalige jüdische
Einwohner, die in der NS-Zeit ermordet wurden (siehe Presseberichte unten). Der
Platz vor dem Müßiggengelzunfthaus wurde nach Sigmund Ullmann benannt ("Sigmund-Ullmann-Platz",
siehe Fotos unten).
1945 kehrten fünf ehemalige Gemeindeglieder nach Kempten zurück. 1947
bildete sich aus jüdischen "Displaced Persons" in Kempten (54
Personen) eine Religionsgemeinschaft, die jedoch mit Abwanderung der DPs nach
1948 wieder erlosch.
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus dem jüdischen Gemeindeleben
Besuch von Bezirksrabbiner Dr. Ernst Jacob
in Kempten (1930)
Artikel
in der "Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung" vom 1. März
1930: "Kempten. Am Mittwoch, den 12. Februar, besuchte Herr Bezirksrabbiner
Dr. Ernst Jacob aus Augsburg anlässlich der Beerdigung der Frau
Luise Landauer geb. Schmal, zum ersten Mal unsere Gemeinde. Bei der
Beerdigung fand sich die ganze Gemeinde auf dem Friedhof versammelt. Im
Laufe des Nachmittags wurde der Religionsunterricht inspiziert, der
neuerdings von Herrn Lehrer Liffgens aus Memmingen erteilt
wird." |
Erweiterung des Gebietes der Israelitischen Kultusgemeinde Kempten
(1927)
Bekanntmachung
in der "Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung" vom 15. Juli
1927: "Bekanntmachung über die Erweiterung des Gebietes der
Israelitischen Kultusgemeinden Augsburg, Fischach, Ichenhausen,
Illereichen-Altenstadt, Ingolstadt, Kempten, Krumbach, Memmingen und
Oettingen.
Die nachstehend aufgeführten Kultusgemeinden haben beschlossen, ihr
Gebiet wie folgt auszudehnen...
Die Israelitische Kultusgemeinde Kempten auf die Finanzamtsbezirke
Buchloe, Füssen, Immenstadt, Kaufbeuren, Kempten, Lindau und Markt
Oberdorf." |
Berichte
zu einzelnen Personen aus der Gemeinde
75. Geburtstag des Gemeindevorstehers
Sigmund Ullmann (1929)
Artikel
in der "Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung" vom 1.
September 1929: "Kempten. Der Vorstand der hiesigen
israelitischen Kultusgemeinde, Herr Sigmund Ullmann, feierte am 30.
Juli seinen 75. Geburtstag. Ein Leben, reich an Arbeit, liegt hinter ihm.
Von dieser Arbeit galt neben seiner Tätigkeit für die Kultusgemeinde ein
Hauptteil dem Gemeinwesen der Stadt. Diese Arbeit füllte sein Leben aus
von dem Tage, da er als Magistratsrat und später als Stadtrat gewählt
wurde. Hier fand er besonders als Mitglied des Finanzausschusses, des
Bibliotheksausschusses und des Sparkassenausschusses Gelegenheit, sein
reiches Wissen in den fruchtbaren Dienst der Stadt zu stellen. Im Jahre
1925 nach Ablauf seiner Wahlperiode schied er aus dem Stadtrat aus, war
aber trotzdem noch in einzelnen Ausschüssen weiter tätig. Erst im
Februar dieses Jahres stellte er mit Rücksicht auf sein Alter seine
Ehrenämter zur Verfügung des Stadtrates und zog sich in den
wohlverdienten Ruhestand zurück. Der Stadtrat hat seinem früheren
fleißigen Mitarbeiter und Berater ein überaus herzlich gehaltenes
Glückwunschschreiben mit dem Stadtwappen gerahmt und einem
Blumenarrangement übersandt." |
Hinweis auf die Lebensgeschichte von Andor Ákos
Links: "Stolperstein" in Kempten für Andor Ákos
Andor Ákos (1893-1940) war ein bedeutender Architekt, Maler und Grafiker.
Er starb nach Aufdeckung seiner jüdischen Identität infolge der
Aufforderung zum Suizid durch die Kemptener Naziführung.
Über Leben und Werk informiert der Wikipedia-Artikel
Andor Ákos (hier auch Literaturangaben u.a.m.) |
Kennkarte
aus der NS-Zeit |
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Am 23. Juli 1938 wurde
durch den Reichsminister des Innern für bestimmte Gruppen von
Staatsangehörigen des Deutschen Reiches die Kennkartenpflicht
eingeführt. Die Kennkarten jüdischer Personen waren mit einem großen
Buchstaben "J" gekennzeichnet. Wer als "jüdisch"
galt, hatte das Reichsgesetzblatt vom 14. November 1935 ("Erste
Verordnung zum Reichsbürgergesetz") bestimmt.
Hinweis: für die nachfolgenden Kennkarten ist die Quelle: Zentralarchiv
zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland: Bestände:
Personenstandsregister: Archivaliensammlung Frankfurt: Abteilung IV:
Kennkarten, Mainz 1939" http://www.uni-heidelberg.de/institute/sonst/aj/STANDREG/FFM1/117-152.htm.
Anfragen bitte gegebenenfalls an zentralarchiv@uni-hd.de |
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Kennkarte
des in Kempten
geborenen Albert Vogel |
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Kennkarte (ausgestellt
in Mainz 1939) für Albert Leopold Vogel (geb. 4. Juni 1882 in
Kempten),
Weinvermittler, wohnhaft in Mainz, am 30. September 1942 deportiert
ab Darmstadt,
vermutlich nach Treblinka, umgekommen; im September 2009 wurde für ihn
ein
Stolperstein in Mainz, Diether-von-Isenburg-Str. 11 verlegt (Link,
Link
2) |
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Zur Geschichte der Synagoge
Die Zahl der jüdischen Einwohner war zunächst zu klein, um
regelmäßig eigene Gottesdienste abhalten zu können. 1875 schlossen sich die
jüdischen Familien der Gemeinde in Memmingen ab. Doch wurde gleichzeitig ab
1875 ein Nebenzimmer des Landhauses am Residenzplatz 33 zur Abhaltung von
Gottesdiensten in Kempten - zumindest an den hohen Feiertagen - gemietet.
1936 oder 1937 wurde am Betsaal ein Schild angebracht "Juden
unerwünscht". Beim Novemberpogrom 1938 gab es gegen den Betsaal keine
Ausschreitungen. Auch die Ritualgegenstände blieben erhalten, nachdem sie der
damalige Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt für das Heimatmuseum angekauft
hatte.
Adresse/Standort des Betsaales im Landhaus: Residenzplatz
33
Fotos
(Fotos: Hahn, Aufnahmedatum
31.5.2009)
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Das Landhaus am
Residenzplatz, in dem sich der Betraum der Kemptener Juden
befand. |
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Erinnerung an Sigmund
Ullmann:
der Sigmund-Ullmann-Platz
(Fotos: Elisabeth Böhrer, August 2010) |
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Straßenschild
"Sigmund-Ullmann-Platz" mit erklärendem Zusatz: "Sigmund
Ullmann (1854-1943). Bankier, 1914-1942 Vorsitzender der Jüdischen
Kultusgemeinde, Mitglied des Magistrats und des Stadtrates. 1942 ins
Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wurde dort Ullmann ein
Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns." |
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Andernorts entdeckt |
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Grabstein im jüdischen
Friedhof in Augsburg für Gutta Kleeblatt
geb. Victor
(geb. 1878 in Burghaun, gest. 1940 in
Kempten im Allgäu) |
Erinnerungsarbeit
vor Ort - einzelne Berichte
Juli 2010:
Verlegung von "Stolpersteinen" in Kempten |
Foto
links von Yvonne Dathe: Gunter Demnig, Initiator der Stolpersteinbewegung, beim Verlegen der ersten Stolpersteine in Kempten.
Artikel von Yvonne Dathe im "Kreisboten" Kempten - Isny -
Westallgäu vom 20. Juli 2010 (Artikel):
"Unvergessliche Stolpersteine.
Kempten – Am vergangenen Donnerstag wurden die ersten 'Stolpersteine' in der Kemptener Innenstadt verlegt.
'Stolpersteine' sind Betonsteine mit einer aufgesetzten und gravierten Messingplatte (zehn mal zehn Zentimeter), die im Bürgersteig vor der vermutlich letzten selbstgewählten Wohnstätte eines Opfers des NS-Regimes verlegt werden. Die Gravur im Stein trägt Name, Lebensdaten und den Zeitpunkt seiner Deportation und Ermordung.
OB Dr. Ulrich Netzer (CSU) hat gerne die Schirmherrschaft für die Initiative
'Stolpersteine' in Kempten übernommen. Die Ziele fügten sich gut in den Umgang der Stadt Kempten mit der finsteren Geschichte der Deutschen ein. Es sei wichtig,
'die Geschichte nicht zu vergessen für eine humane Gegenwart', so der OB. Er freue sich besonders, dass aus Toronto Luigi Kastania, Nachfahre des Architekten Andor Àkos, extra zu den ersten Stolpersteinlegung gekommen ist.
'Wir dürfen nicht nachlassen psychische und physische Gewalt anzuprangern. Wir dürfen nicht zulassen, dass Anderen widerfährt, was wir selbst nicht wollen. Wir dürfen nicht schweigen, wegschauen, weghören', führte Netzer weiter aus.
Besonderes Denkmal
Ibo Gauter Vorsitzende des Vereins Initiative Stolpersteine für Kempten betont, dass die Stolpersteine
'Teil eines Denkmals' seien, dessen Besonderheit es ist, dass es nicht irgendwo unverrückbar an einem Ort steht. Ganz im Gegenteil: Das Denkmal sei überall dort, wo sich Menschen zusammen gefunden hätten und weiterhin zusammenfänden, um etwas unsägliches sagbar zu machen. Alle Stolpersteine seien identisch in Form, Größe und Gewicht. Sie seien aus dem gleichen Material – ein mit golden glänzendem Messing überzogener Stein – und alle liegen auf dem Boden, über den täglich viele Menschen laufen. Eines unterscheidet jeden Stolperstein vom anderen: Im Messing ist ein Name eingraviert, dazu Geburtsdatum und Todesdatum.
'Und dieser Name ist einmalig. Genauso einmalig wie der Mensch, dem dieser Name einmal gehört hat und den man versucht hat, ihm zu
nehmen', erklärte Gauter. 'Der Name gehört einem Menschen, der ermordet wurde. Der Stein liegt vor seiner letzten Wohnung, die er selbst gewählt
hat', so die Vorsitzende weiter. Die Stolpersteine bilden zusammen das größte
'Dezentrale Denkmal'. Sie liegen bis jetzt in mehr als 530 Städten und Gemeinden Deutschlands, aber auch in Österreich, Belgien, Niederlande, Polen, Ungarn, Tschechien, Ukraine und seit Januar auch in Italien. Der Initiator der Stolpersteinbewegung ist Gunter Demnig. Seinen ersten Stolperstein verlegte er 1997 in Berlin-Kreuzberg, erst nicht genehmigt, später aber legalisiert.
'Dem ersten Stolperstein folgten viele, und es werden viele folgen. Denn mit jedem Stolperstein ist ein Signal verbunden: Es ist einem Ermordeten allergrößtes Unrecht geschehen. Und damit auch den vielen Menschen, die ihm nahe waren, und denen er vielleicht das Liebste
war', erläutert Gauter.
Weiter erklärt sie, die Zeit müsse endlich vorbei sein, als Minderheit sich geschämt haben, weil sie diskriminiert und ausgegrenzt wurden. Weil jemand in der Familien zu denen gehörte, die gedemütigt und ermordet wurden.
'Die Zeit des Schweigens und des Verschweigens muss ein Ende haben', forderte die Vorsitzende. Für manchen ist die Vorstellung, dass auf den Namen eines gequälten und ermordeten Menschen vielleicht bewusst oder unbewusst achtlos getreten wird, nicht einfach. Aber Gunter Demnig sagte:
'Man verbeugt sich vor einem Opfer, wenn man seinen Namen auf dem Stein lesen
will.'
Prominente Opfer. Unter anderen wurde ein Stolperstein für Andor Àkos, Kemptener Architekt, Innenarchitekt und Künstler, verlegt. Àkos prägte mit seinen Bauwerken das Stadtbild von Kempten. Zum Beispiel durch Kirchenbauten wie die Himmelfahrtskirche an der Iller oder Maria Hilf, Rathaus- und Kornhausumbau und Gasthöfe. Er wurde vom Regime wegen seiner Abstammung zum Suizid getrieben. Luigi Kastania, Nachfahre von Andor Àkos, ist aus Toronto gekommen, um OB Netzer Briefe und Baupläne von Àkos in einer Mappe zu überreichen.
Damit weitere Stolpersteine verlegt werden können, ist die Initiative auf Spenden angewiesen. Weitere Informationen dazu gibt es unter
E-Mail.
Lang ist die Liste der aus Kempten und Umgebung von den Nazis Verschleppten. Die Stolpersteine sollen jetzt an ihr Schicksal erinnern." |
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August 2010:
Im Zusammenhang mit der "Stolpersteine"-Verlegung - Erinnerung an
Familie Ullmann in Kempten |
Foto
links: Sigmund Ullmann
Artikel (li) in der "Allgäuer Zeitung" vom 19. August 2010 (Artikel):
"Entrechtet, enteignet, gedemütigt
Stolpersteine - Platz erinnert an Sigmund Ullmann
Die Initiative Stolpersteine für Kempten und Umgebung hat mit dem Künstler Gunter Demnig 21 Erinnerungssteine für Opfer der NS-Gewaltherrschaft verlegt.
'Stolpersteine sind keine Gefahr für unsere Füße, wohl aber eine Gefahr für Verschweigen und Vergessen', erklärte Vorsitzende Ibo Gauter. Die AZ stellt die Opfer in einer Serie vor.
Die Familie Ullmann gilt als die größte jüdische Familie in Kempten. Der wohl bekannteste Vertreter war Sigmund Ullmann (1854-1942), der sich als Bankier, Stadtrat und Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde (1914 bis 1942) einen Namen machte. Er wurde 1942 deportiert. An ihn erinnert ein Stolperstein vor dem Haus Immenstädter Straße 20.
Die Familie stammt aus
Osterberg und kam über Memmingen nach Kempten. 1877 trat der 23-jährige Sigmund Ullmann ins Bankgeschäft seiner Brüder Hermann und Nathan ein. 1886 kauften die drei eine Hälfte des Ponikau-Hauses am Rathausplatz (heute Allgäuer Volksbank). Privat wohnte der alleinstehende Bankier in der Immenstädter Straße.
Von 1912 bis 1919 war er Magistratsrat und saß 1922/23 für den Bürgerverein im Stadtrat. Später wirkte er als Finanzberater von OB Dr. Otto Merkt. Ullmanns Unterschrift ist auf dem Kemptener Notgeld aus der Inflationszeit erhalten.
Im Dritten Reich wurde Ullmann entrechtet, enteignet und gedemütigt. In sein
'Judenhaus' wurden andere jüdische Familien eingewiesen. In seinem 89. Lebensjahr sollte er ins KZ. Als sich Merkt dem Befehl widersetzte, wurde er abgesetzt. Ullmann wurde am 10. August 1942 mit vier anderen
'alten Juden' ins KZ Theresienstadt deportiert. Er starb am 19. September 1942.
Seit 1997 trägt der Platz vor dem Müßiggengelzunfthaus Ullmanns Namen.
(li)." |
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September 2010:
Im Zusammenhang mit der
"Stolpersteine"-Verlegung - Erinnerung an Oskar Hauser |
Foto
links: Oskar Hauser.
Artikel von Ralf Lienert in der "Allgäuer Zeitung" vom September 2010 (Artikel):
"Kurz vor der Flucht im KZ ermordet
Stolpersteine - Oskar Hauser führte das Schuh- und Modehaus Sax
Kempten. Die Initiative Stolpersteine für Kempten und Umgebung hat für 21 jüdische Opfer, Widerstands-Kämpfer und ermordete Kranke Gedenksteine verlegt. Im Rahmen einer AZ-Serie erscheint heute Oskar Hauser.
Zur Jahrhundertwende 1900 eröffnete Josef Moritz Sax ein Schuhhaus in der Fußgängerzone und heiratete zwei Jahre später Selma Hauser aus
Mühringen am Neckar. Nach seinem plötzlichen Tod 1905 führte die kinderlose Witwe das Geschäft alleine fort und beteiligte 1918 ihren Bruder Oskar Leopold daran.
Der 30-Jährige heiratete im März 1919 Hedwig Tennenbaum und baute das Geschäft zu einem führenden Mode- und Schuhhaus aus:
'Jede Kemptenerin wird ein Frühjahrskleid bei Sax finden.' 1920 und 1922 kamen die beiden Kinder Fritz und Emilie auf die Welt. Die Familie wohnte in der Fürstenstraße 27.
Doch im April 1933 postierten sich SA-Mitglieder mit Hetzplakaten vor dem Eingang. Wenig später verlor Hauser das Recht zum Alleinverkauf von
'Mercedes-Schuhen' an das benachbarte Schuhhaus Durst. Nach der sogenannten Reichspogromnacht schloss das Modehaus 1938 seine Pforten.
Die Familie beantragte ein amerikanisches Visum. Doch nach der Zuteilung rutschten die Eltern auf der Emigrationsliste weit nach unten. Die beiden Kinder hatten Glück und stiegen am 12. Februar 1939 und 18. Juli 1939 aufs Schiff. Es war das letzte Mal, dass sie ihre Eltern sahen.
Oskar Hauser wurde mit seiner Frau aus der angestammten Wohnung ausgewiesen und zog in eine Baracke am Weidacher Weg ein. Am 31. März 1942 wurden sie über Milbertshofen nach Piaski deportiert. Dort wurde Oskar Leopold Hauser ermordet. Die Tochter Emmi (88) lebt heute noch in den USA und freute sich über die Stolpersteine:
'Das hat mich zu Tränen gerührt.' (li)" |
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Februar 2011:
Im Zusammenhang mit der
"Stolpersteine"-Verlegung: Erinnerung an Julie Walter geb. Schmal
und ihre Familie |
Foto
links von Ralf Lienert: am 20. Februar 1943 starb die Kemptener Jüdin Julie Walter im KZ Theresienstadt. Dieses Foto von ihr stammt aus dem Album ihres Enkels.
Artikel von Ralf Lienert in der "Allgäuer Zeitung" vom 8. Februar 2011 (Artikel):
"Im August 1942 deportiert, im Februar 1943 im KZ gestorben.
Das Schicksal der Kemptener Jüdin Julie Walter - Ihr Mann Samuel und Sohn Siegfried überlebten
Die Initiative Stolpersteine für Kempten und Umgebung verlegte im vergangenen Jahr 21 Gedenksteine für die Opfer des NS-Regimes in der Stadt. Darunter auch Julie Walter, deren Schicksal wir heute vorstellen.
Die beiden Brüder Jakob und Samuel Walter betrieben in der Rathausstraße ein Bekleidungsgeschäft für Knaben und Männer. Samuel heiratete 1891 die 22-jährige Julie Schmal aus dem württembergischen Bad Buchau, einige Kilometer westlich von Biberach. Ein Jahr später kam Sohn Anton auf die Welt, im Jahr 1900 sein Bruder Siegfried. Die Familie wohnte im zweiten Stock über dem Geschäft und die beiden Buben erlebten in der Kemptener Altstadt eine unbeschwerte Jugend.
Anton wird Ingenieur und meldet sich 1914 freiwillig an die Front. 1918 wird er in Flandern schwer verwundet und stirbt. Sein Bruder wird erfolgreicher Bankkaufmann und geht nach Stettin.
Das elterliche Geschäft floriert. 'Mein Opa fuhr immer nach Berlin zum Einkaufen und brachte von dort die neusten Kollektionen mit nach Kempten', erinnert sich der Enkel Thomas heute. In seinen Fotoalben sind viele Fotos von Ausflügen der Großeltern erhalten.
1933 schließt Samuel Walter, inzwischen 80 Jahre alt, sein Geschäft. Mit seiner Frau Julie steht er am Fenster, als die SA mit antisemitischen Parolen vor den jüdischen Geschäften aufmarschiert. 1940 kehrt Sohn Siegfried nach Kempten zurück. Wenig später werden seine Eltern in das so genannte Judenhaus an der Immenstädter Straße zwangseingewiesen. Zwei Jahre leben sie dort mit anderen jüdischen Familien auf engstem Raum. Bei Spaziergängen müssen sie den gelben Judenstern sichtbar auf der Brust tragen.
Am 10. August 1942 werden Julie Walter und ihr Mann ins KZ Theresienstadt deportiert. Die 73-Jährige stirbt dort ein halbes Jahr später, am 20. Februar 1943.
Einmarsch der Amerikaner. Die Familie von Siegfried Walter wird Anfang 1943 ins Judenhaus eingewiesen. Zwei Jahre später muss auch er ins KZ Theresienstadt. Sein Sohn erinnert sich noch genau daran. Auch an den Tag, an dem die Braunhemden kamen, die Wohnung durchsuchten und im Schrank Konservendosen fanden.
'Das war mein einziges Spielzeug und ich weinte so sehr, dass mir die Dosen blieben', erinnert sich der heute 72-Jährige. Mit seiner Mutter Edwina flüchtete er nach Pfronten und erlebte dort den Einmarsch der Amerikaner. Zurück in Kempten freuten sich die beiden, dass der Vater das KZ überlebte und sie 1945 eine neue Existenz aufbauen konnten." |
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März 2011:
Im Zusammenhang mit der "Stolpersteine"-Verlegung:
Erinnerung an den Käsegroßhändler Louis Victor |
Foto
links von Ralf Lienert: "Stolperstein" für Louis
Victor
Artikel von Ralf Lienert in der "Allgäuer Zeitung" vom 17. März 2011 (Artikel):
"Nationalsozialisten schickten Käsegroßhändler Louis Victor ins KZ
'Sie sind unangenehm aufgefallen'
Die Initiative Stolpersteine für Kempten und Umgebung verlegte in der Stadt bislang 21 Gedenksteine für NS-Opfer. Diesmal stellen wir das Schicksal des jüdischen Kaufmanns Louis Victor vor. Die Familie stammte aus
Burghaun im Kreis Fulda. 1905 lebten 163 Juden in dem kleinen Ort mit 1252 Einwohnern. Die Brüder Samuel und Louis Liebmann Victor entschlossen sich, ihr Glück im Allgäu zu suchen. Sie kamen nach Kempten und gründeten 1906 die Käsegroßhandlung
'Gebrüder Victor OHG' in der Lindauer Straße 25. Der Käse wurde in einem Haus an der Immenstädter Straße (heute Schnetzer-Park) produziert. 1916 starb Samuel und wurde auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Zwei Jahre später nahm der Junggeselle Louis seine Schwester Gittel und ihre beiden Töchter in sein Haus an der Mozartstraße auf. Der Käsehandel florierte. Doch nach der Reichspogromnacht im November 1938 war Schluss. Die Nationalsozialisten machten den Laden dicht.
In der NS-Presse sah sich Louis Victor Schmähungen ausgesetzt. Weil er seine Handelsgesellschaft nicht auflöste und im Schriftverkehr mit den Behörden nicht den jüdischen Beinamen
'Isidor' verwendete, wurde er vorgeführt. Als er eine Auseinandersetzung mit einem Mieter wegen eines Ofens hatte, klopfte die Polizei an seine Tür:
'Sie sind unangenehm aufgefallen. ' Schließlich landete er wegen 'falscher Anschuldigungen' auf der Anklagebank und wurde zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt. Die NS-Presse schrieb tags darauf:
'Und Jude bleibt Jude, wenn er auch, wie viele seiner Rassegenossen, nicht mehr in den Ghettos des Ostens haust, sondern einmal in Kempten ein ,angesehenes Geschäft hatte, zum ,anständigen Juden wurde.'
Am 1. April wurde Louis Liebmann Victor zusammen mit seinen Nichten und weiteren Kemptener Juden nach Piaski deportiert und ermordet. Sein Bruder Max kam bereits 1941 im Ghetto Lodz um." |
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April 2011:
Im Zusammenhang mit der "Stolpersteine"-Verlegung:
Erinnerung an Elsa und Gertrud Liebenthal |
Foto
links von Ralf Lienert: "Stolperstein" für Gertrud Liebenthal.
Artikel von Ralf Lienert in der "Allgäuer Zeitung" vom 7. April
2011 (Artikel):
"Schwestern wurden im KZ ermordet - Elsa und Gertrud Liebenthal wurden deportiert
Die 'Initiative Stolpersteine' verlegte bislang 21 Gedenksteine für Opfer der NS-Herrschaft in Kempten. Heute stellen wir das Schicksal der Schwestern Else und Gertrud Liebenthal vor. Die Familie gehört zu den ältesten jüdischen Familien in der Stadt. Vater Josef Liebenthal stammt aus Nürnberg und eröffnet im November 1875 einen Käsehandel in Kempten. Wenige Tage vorher hatte der 29-Jährige seine Frau Marie (26) geheiratet. 1878 und 1880 kommen die ersten beiden Söhne auf die Welt. Doch der Blick ins Melderegister zeigt das Schicksal vieler Familien in jener Zeit. 1881 sterben die Zwillinge Leo und Otto nach nur zwei Tagen und 1883 und 1885 ereilt das gleiche Schicksal die Kinder Ernst und Elise. Aber dann folgen von 1887 bis 1895 vier Mädchen, die in Kempten eine unbeschwerte Jugend erleben.
Die Familie lebt ab 1908 an der Ecke Westend/Bodmanstraße (heute Kinderschutzbund). 70 Butter-, Käse-, Milch- und Schmalzhändler bemühen sich damals um die Kundschaft der 11000 Einwohner zählenden Stadt. 1910 stirbt der 60-jährige Familienvater überraschend auf einer Reise nach Leipzig. Seine beiden Söhne Wilhelm (31) und Hans-Heinrich (30) führen das Geschäft weiter. Zehn Jahre später zieht Wilhelm mit seiner Frau nach Darmstadt. Hans-Heinrich schließt den Käsehandel 1929 und arbeitet als Buchhalter.
Und die Frauen im Haus? Anna heiratet den Bankkaufmann Josef Littmann und zieht 1911 nach Leipzig. Käthe stirbt 1927 mit 40 Jahren und wird in Kempten begraben. Mutter Marie wird 82 und stirbt 1934. Elsa bleibt ledig und lebt ab 1932 in Michelbach an der Bilz. Im Frühjahr 1939 kehrt sie nach Kempten zurück.
Foto
links von Ralf Lienert: "Stolperstein" für Elsa Liebenthal
Doch hier hat sich viel geändert. Ihre Schwester Gertrud ist inzwischen ins
'Judenhaus' an der Immenstädter Straße eingewiesen worden und arbeitet bei Karl Stiehle in der Haubenschloßstraße als Hilfsarbeiterin. Die Buchhalterin hat im Ullmann-Haus eine bescheidene Dachwohnung, die sie sich mit den Geschwistern Kleeblatt teilt. Einige Häuser weiter wohnt der Bruder Hans-Heinrich. Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird seinem Ausreiseantrag stattgegeben. Dabei half ihm die Kemptener Unternehmerfamilie
Oberpaur. 'Mein Onkel Richard hatte in Santiago und Valparaiso Modehäuser', erklärt dazu seine Nichte Eva Neuhauser. Am 30. November 1939 geht Liebenthal auf ein Schiff nach Santiago de Chile. Seine Geschwister sieht er nie wieder.
1942 müssen Elsa und Gertrud Liebenthal mit anderen Kemptener Juden den ersten Deportationszug besteigen. Sie lassen fast alles zurück. Das Vermögen in Höhe von 10400 Mark kassiert die Oberfinanzdirektion. Die beiden Schwestern werden im KZ Piaski ermordet. Ihr Bruder Wilhelm wird mit seiner Frau Berta Ende 1943 in Theresienstadt umgebracht.
Vor ihrem Wohnhaus in der Westendstraße liegen die beiden Stolpersteine." |
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Mai 2011:
Im Zusammenhang mit der "Stolpersteine"-Verlegung:
Erinnerung an Mathilde Kohn |
Foto
links von Ralf Lienert: "Stolperstein" für Mathilde Kohn geb.
Laudenbacher.
Artikel von Ralf Lienert in der "Allgäuer Zeitung" vom 25. Mai
2011 (Artikel):
"Mathilde Kohn aus Kempten folgte mit 84 ihren Kindern ins KZ
OB wehrte sich gegen Deportation von Mathilde Kohn
Die Initiative Stolpersteine für Kempten und Umgebung verlegte 21 Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus. Heute stellen wir das Schicksal von Mathilde Kohn vor. Noch heute erinnern sich viele ältere Mitbürger an das Strumpfhäuschen zwischen Klostersteige und Gerberstraße
(Foto links unten; aus der Sammlung von Ralf Lienert). Mit Mathilde Kohn stand einst eine bekannte Kauffrau an der Theke und verstand es, mit ihrer Kundschaft umzugehen. Qualität und Service waren für sie und ihren Mann Leopold auch die Basis für ihre beiden Schuhgeschäfte im
'Bachschmidhaus'.
Das Schicksal von Mathilde Kohn zählt aber auch zu den dunkelsten Kapiteln der neueren Kemptener Geschichte. Die Frau aus Regensburg heiratete 1879 in Memmingen den Kaufmann Leopold Kohn. 1880 und 1885 kamen die Kinder Julius und Hedwig zur Welt. 1889 fand die Familie in Kempten einen neuen Lebensmittelpunkt und mit der Geburt ihres Sohnes Bruno rundete sich 1893 das Familienglück.
In der aufstrebenden Mittelstadt wurden die Geschäfte liebevoll 'beim Jud Kohn' genannt. Jahrzehntelang gehörte die Familie zum Zentrum der Kemptener Geschäftswelt und war als Wohltäter bekannt. Doch das schützte sie nicht vor den Repressalien des NS-Regimes. Am 1. April 1933, einem Samstagvormittag, zogen um 10 Uhr Braunhemden vor den Geschäften auf.
Erst waren die jüdischen Kaufleute Geschäftspartner und Nachbarn - jetzt Zielscheibe menschenverachtender Parolen.
'Dem Juden keinen Pfennig' stand vor dem Strumpfhäuschen und Kreisleiter Anton Brändle kündigte bei der Kundgebung vor der Tierzuchthalle an:
'Der Judenboykott, der in aller Ritterlichkeit durchgeführt wurde, hat dem Juden einen kleinen Vorgeschmack gegeben, wie sich Deutschland des ihm aufgezwungenen Kampfes wehren werde.'
Familie Kohn bekam die ganze Härte zu spüren. Nach der Reichspogromnacht musste sie ihre Geschäfte unter Wert an die Konkurrenz verkaufen. Trotz des hohen Ansehens musste Mathilde Kohn mit ihren beiden Kindern Julius und Hedwig die Wohnung an der Klostersteige räumen und in die Sandstraße 15 umziehen. Ende März wurden Julius und Hedwig ins KZ geschickt. Am 6.August 1942 kündigte die Gestapo telefonisch die Deportation der jüdischen Senioren aus Kempten an. Mathilde Kohn war inzwischen 84 Jahre alt und sollte auch
'umgesiedelt' werden. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt wehrt sich mit aller Kraft, reist nach Augsburg, doch seine Argumente verhallen ungehört. Am 10. August muss auch Mathilde Kohn den Zug nach Theresienstadt besteigen.
Bernsteinkette geraubt. An ihrer Seite steht ihr Sohn Bruno, der sie bis nach Augsburg begleitet. Dort brennt sich ein Bild in sein Gedächtnis ein: Uniformierte reißen seiner Mutter gierig eine Bernsteinkette vom Hals. Es ist ein Abschied für immer. Mathilde Kohn stirbt bereits am 18. September im Vernichtungslager.
Ihr Besitz wird vom Finanzamt beschlagnahmt und weit unter Wert vermutlich an Parteibonzen versteigert. Ihr Sohn Bruno, der seine KZ-Haft überlebt, muss sich 1945 mit dem Oberfinanzpräsidenten herumschlagen. Doch der baut bürokratische Hürden auf, verlangt beispielsweise einen Erbschein der toten Mutter.
'Ich glaube, es wäre Sache der Behörde, durch die ich seiner Zeit geschädigt worden bin, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um zu einer Wiedergutmachung von sich aus beizutragen', schreibt ein entnervter Bruno Kohn. Doch bis zu einer Einigung vergehen weitere acht Jahre." |
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November 2014:
Veranstaltung zum Gedenken an die
Pogromnacht im November 1938 |
Artikel im "Kreisboten" (Kempten) vom
November 2014: "Gedenkveranstaltung zur Progromnacht. Gegen das Vergessen
Rund 30 Menschen versammelten sich vergangenen Sonntag am
Sigmund-Ullmann-Platz in Kempten, um der Pogromnacht vom 9. November 1938
und deren jüdischen Opfern zu gedenken.
Der Gedenkgang führte vom Müßiggängelzunfthaus zum Friedensplatz am
Stadtpark. Er wird von der 'Initiative Stolpersteine für Kempten und
Umgebung' veranstaltet und findet seit 2006 alljährlich statt. Ein Mitglied
der Deutsch-Israelischen Gesellschaft führte die blau-weiße Israel-Flagge
mit; als Vertreterin der Stadt war die Kulturbeauftragte des Stadtrates
Silvia Rupp anwesend. Ibo Gauter von der 'Initiative Stolpersteine'
erinnerte zu Beginn an den langjährigen Vorsteher der jüdischen Gemeinde
Kemptens Sigmund Ullmann (1854-1943), der 1942 ins KZ Theresienstadt
deportiert worden war. Danach setzte sich die schweigende Gruppe mit Kerzen
und Laternen durch die fast menschenleere Innenstadt in Richtung
Rathausstraße in Bewegung. Dort befinden sich vor den Hausnummern zwei und
fünf insgesamt vier 'Stolpersteine'. Die 'Stolpersteine' sind zehn mal zehn
cm große Messingplatten, die vor der letzten selbstgewählten Wohnstätte
jüdischer Bürger im Gehsteig einbetoniert sind und an deren Schicksal
gemahnen sollen. Eine Gravur nennt jeweils den Namen und die Lebensdaten,
den Zeitpunkt und Ort der Deportation. Diese Gedenkplatten werden seit 1992
von dem Kölner Künstler Gunter Demnig in vielen deutschen und europäischen
Städten gesetzt; bisher sind es mehr als 33.000. In Kempten, das nur eine
kleine jüdische Gemeinde besaß, begann das öffentliche Gedenken an das
Schicksal der jüdischen Mitbürger im Dritten Reich erst Ende der 1980er
Jahre. Im Jahr 1933 wohnten hier etwa 62 Juden und 'Halbjuden', die bestens
in der Stadt integriert waren. Es gab hier keine Synagoge, die in der
sogenannten 'Reichskristallnacht' abgefackelt oder wie in Memmingen
geplündert und abgetragen werden konnte. Der von der jüdischen Gemeinde
angemietete Betraum im Landhaus am Hildegardplatz blieb wie der jüdische
Friedhof in der Pogromnacht unangetastet. Dem damaligen Oberbürgermeister
Dr. Otto Merkt ist es zu danken, dass die Kultgegenstände der Gemeinde auch
heute noch existieren. Merkt konnte aber den Anschlag auf das Haus des
Viehhändlers Löw in der Bahnhofstraße ebensowenig verhindern wie die
willkürlichen Verhaftungen in den folgenden Tagen. In Kempten sind seit 2010
genau 22 'Stolpersteine' verankert worden. Johann Georg Gauter erinnerte in
der Rathausstraße an die zahlreichen Schikanen, denen die Juden im Dritten
Reich ausgesetzt waren und legte an jedem Stein eine weiße Rose nieder. Ibo
Gauter rezitierte am 'Stolperstein' für Elvira Stein ein Gedicht von
Wolfgang Bächler. Am nächsten Halt vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie
Kohn an der Klostersteige wurden drei weiße Rosen niedergelegt. Das
Schuhhaus der Gebrüder Kohn, auch heute noch vielen älteren Kemptenern ein
Begriff, war nach 1938 wie die anderen sechs hiesigen jüdischen Geschäfte
'arisiert', das heißt enteignet und in deutschen Besitz überführt worden.
Mehrere Familienmitglieder waren in KZs deportiert worden; nur Bruno Kohn
überlebte und eröffnete - als einziger der wenigen jüdischen Rückkehrer -
1946 erneut ein Geschäft in Kempten. Gauter erinnerte an das Schicksal der
Familie Kohn und gab seinem Ärger über das vor kurzem am KZ Dachau
gestohlene Tor mit der Aufschrift 'Arbeit macht frei' Ausdruck. Am
Friedensplatz, wo die Israelitischen Kultusgemeinden Bayerns 1995 ein
Denkmal für die Kemptener Juden errichtet hatten, endete die
Gedenkveranstaltung. Hier wurde den zwei polnischen Zwangsarbeitern in
Weidach und einer Sinti-Familie in Hellengerst gedacht, die im Dritten Reich
ermordet worden waren. Ihnen sind erst in diesem Jahr 'Stolpersteine'
gesetzt worden."
Link zum Artikel |
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Links und Literatur
Links:
Literatur:
| Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann: Die
jüdischen Gemeinden in Bayern 1918-1945. Geschichte und Zerstörung. 1979
S. 475-476. |
| Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in
Bayern. Eine Dokumentation der Bayerischen Landeszentrale für politische
Bildungsarbeit. A 85. 1992² S. 265-266. |
| Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany -
Bavaria. Hg. von Yad Vashem 1972 (hebräisch) S. 636-637.
|
| Ralf Lienert: Die Geschichte der Juden in Kempten.
Kempten 1998. |
| Karl Filser: Zur jüngeren Geschichte der Juden in
Kempten. In: Peter Fassl (Hrsg.): Geschichte und Kultur der Juden in
Schwaben. Irseer Schriften 2. Sigmaringen 1994 S. 105-116. |
| Herbert Müller: Kempten während der Weimarer
Republik. Kempten im Dritten Reich. Abschnitte in: Geschichte der Stadt
Kempten. Kempten 1989. |
| "Mehr als
Steine...." Synagogen-Gedenkband Bayern. Band I:
Oberfranken - Oberpfalz - Niederbayern - Oberbayern - Schwaben.
Erarbeitet von Barbara Eberhardt und Angela Hager. Hg.
von Wolfgang Kraus, Berndt Hamm und Meier Schwarz.
Reihe: Gedenkbuch der Synagogen in Deutschen. Begründet und
herausgegeben von Meier Schwarz. Synagogue Memorial Jerusalem. Bd. 3:
Bayern. Kunstverlag Josef Fink Lindenberg im
Allgäu. (mit umfassenden Quellen- und
Literaturangaben)
ISBN 978-3-98870-411-3.
Abschnitt zu Kempten S. 488-493.
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| "Ma
Tovu...". "Wie schön sind deine Zelte, Jakob..." Synagogen
in Schwaben. Mit Beiträgen von Henry G. Brandt, Rolf Kießling,
Ulrich Knufinke und Otto Lohr. Hrsg. von Benigna Schönhagen.
JKM Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben. 2014.
Der Katalog erschien zur Wanderausstellung "Ma Tovu...".
"Wie schön sind deine Zelte, Jakob..." Synagogen in Schwaben des
Jüdischen Kultusmuseums Augsburg-Schwaben und des Netzwerks Historische
Synagogenorte in Bayerisch-Schwaben. |
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Anton
Zanker (Hrsg.): Die Juden im Illertal. Darin auch: Julius Miedel:
Die Juden in Memmingen. Hermann Rose: Geschichtliches der
Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt. Frühe Texte u.a./ Edierte Fassung
Memmingen, Altenstadt, Fellheim, Osterberg. Hardcover 688 S.
Verlag BoD - Books on Demand. Norderstedt 2021. ISBN 978-3-7534-2473-6.
Informationsseite des Verlages mit Leseprobe
Anmerkung: Neben zwei frühen Texten, die vor dem Drama der Intoleranz
entstanden, nämlich von Julius Miedel und Hermann Rose, werfen auch heutige
Autoren auf die Geschichte vor der Geschichte der Juden im Illertal, in der
Region zwischen Kempten und Altenstadt / Iller. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Kempten Allgaeu - Swabia. Jews are
mentioned in the late 14th and early 15th centuries. The modern community was
founded in the 1870s, numbering 91 in 1910 (total 21.001) and 50 in 1933, when
it was under the authority of the Ichenhausen district rabbinate. Twenty-six
Jews left in 1933-40, 14 of them emigrating from Germany; ten were deported to
Piaski (Poland) via Munich on 3 April 1942 and another seven were sent to the
Theresienstadt ghetto in September 1942 and February 1945.
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