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Kreis Gießen"
Gießen
mit Heuchelheim an der Lahn (Hessen)
Jüdische Geschichte / Synagogen bis zur NS-Zeit
Es gibt zu Gießen bestehen
weitere Textseiten (interner Link):
sowie
eine Seite zur jüdischen Geschichte in Gießen
nach 1945
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde(n) (english
version)
In Gießen bestand eine jüdische Gemeinde bereits im Mittelalter. Seit
1341 ließen Gießener Juden Darlehensgeschäft in die Frankfurter Gerichtsbücher
eintragen. Namentlich genannt werden Jud Heilmann von Gießen 1345 bis 1349 in
Frankfurt und Jud Maseman von Gießen (1348). Von der Verfolgung in der
Pestzeit 1348/49 waren auch die Juden in Gießen betroffen. Seit 1373 lassen
sich wieder einzelne jüdische Personen in der Stadt nachweisen (1373 werden
Samuel von Gleiberg und 1378 Seligmann von Rodinberg [= Rotenburg] als "Judenbürger
zu Gießen" genannt; beide betrieben Geldhandel). Auch im 15.
Jahrhundert lebten einzelne Juden / jüdische Familien in der Stadt. 1444 wurde
die "Judenschaft zu Gießen" gebannt, weil sie die Zahlung der Krönungssteuer
verweigerte.
Im 16. Jahrhundert wird erstmals eine "Judengasse" (juddegaß,
1578) in der Stadt erwähnt. Sie lag unmittelbar nördlich der Stadtmauer
innerhalb der Altstadt südlich des Marktes (identisch mit der späteren
Rittergasse). 1622 gab es 22 jüdische Familien in der Stadt, die
allerdings nach erfolglosen Bekehrungsversuchen der Kirche 1624
vertrieben wurden. Im Verlauf der kriegerischen Zeiten des Dreißigjährigen
Krieges flüchteten aus dem Busecker Tal einige jüdische Familien in die Stadt.
1661/62 wurden sie erneut ausgewiesen.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts konnten wiederum - zunächst nur wenige - jüdische
Personen / Familien in Gießen zuziehen. 1719 wurden 13 Einwohner gezählt.
1770 waren es jedoch bereits 86, 1782 110 Personen.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner
wie folgt: 1828 197 jüdische Einwohner, 1840 391 (4,5 % von insgesamt 8.669
Einwohnern), 1852 288, 1861 336, 1871 384 (3,7 % von 10.233), 1880 612 (3,6 %
von 17.003), 1890 744 (3,6 % von 20.416), 1900 895, 1910 1.035 (3,3 % von
31.153).
Zur jüdischen Gemeinde in Gießen gehörten auch die in den benachbarten Orten Heuchelheim
und Steinbach
(seit Auflösung der dortigen Gemeinde 1910) lebenden jüdischen Personen. In
Heuchelheim lebten 1830 25 jüdische Einwohner.
Seit 1887 gab es zwei jüdische Gemeinden in Gießen: die liberale
Israelitische Religionsgemeinde und die orthodoxe
Israelitische Religionsgesellschaft.
An Einrichtungen gab es insbesondere eine Synagoge (beziehungsweise nach
Gründung der Israelitischen Religionsgesellschaft zwei Synagogen s.u.), ein jüdisches
Gemeindehaus (in der Lonystraße unweit der Synagoge Südanlage, errichtet 1879,
abgerissen nach 1960), ein rituelles Bad (beziehungsweise rituelle Bäder), jüdische
Schulen (Religionsschulen) und einen Friedhof
(beziehungsweise zwei nebeneinander gelegene Friedhöfe). Zur Besorgung religiöser
Aufgaben der Gemeinde(n) war ein Rabbiner angestellt (siehe folgender Abschnitt)
sowie ein (bzw. zwei) Lehrer, der (die) zugleich als Kantor und Schochet
tätig war(en). In besonderer Erinnerung blieben im 19. Jahrhundert: Lehrer S.
Mayer (von 1852 über 50 Jahre bis nach 1892); im 20. Jahrhundert: in der
Israelitischen Religionsgemeinde Lehrer Josef Marx (bis 1934); sein
Nachfolger war bis 1937 Bernard Glusman (1934 bis 1937) und als Lehrer der
Israelitischen Religionsgemeinschaft Bernhard Klein, der von 1888 bis
1932 in Gießen gewirkt hat. Sein Nachfolger war bis 1937 Erich Neumann.
Bereits seit dem 18. Jahrhundert (1728) war Gießen Sitz eines Rabbinates.
Im 19./20. Jahrhundert waren die Rabbiner (zugleich Landrabbiner bzw. ab
1842 Provinzialrabbiner von Oberhessen): Dr. Abraham Alexander Wolf (1827 bis
1829), Dr. Benedikt Samuel Levi (1829 bis 1896), Dr. David Sander (1897 bis
1939). Sander war Rabbiner der (liberalen) Israelitischen Religionsgemeinde
Gemeinde beziehungsweise des Liberalen Provinzialrabbinates Oberhessen. Von 1895
bis 1933 hatte auch die orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft in Gießen
mit Dr. Leo Hirschberg einen eigenen Rabbiner (und zugleich Orthodoxer
Provinzialrabbiner von Oberhessen) angestellt.
Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde: Unteroffizier
Harry Rudolf Bauer (geb. 19.11.1886 in Weilburg, gef. 8.12.1914), Gefreiter
Willy Doctor (geb. 25.11.1885 in Gießen, gef. 14.11.1916), Otto Grünebaum
(geb. 15.2.1881 in Büdingen, gef. 2.9.1917), Offz.St. David Katz (geb.
15.1.1887 in Mainzlar, gef. 2.8.1918), Sally Levi (geb.8.2.1884 in
Marburg, gef.
27.1.1916), Emil Lilienfeld (geb. 17.11.1879 in Neustadt, gef. 7.10.1916),
Gefreiter Moritz Lomnitzer (geb. 19.4.1896 in Peiskretscham, gef. 1.6.1918),
Oberarzt Hugo Mayer (geb. 13.9.1887 in Hungen, gef. 25.10.1917), Unteroffizier
Jacob Rosenbaum (geb. 20.5.1885 Krofdorf, gef. 6.10.1914). Max Rosenbaum (geb.
23.9.1883 in Krofdorf, gef. 14.5.1917), Gefreiter Semmy Rothenberger (geb.
24.7.1883 in Gießen, gef. 26.9.1914), Max Speyer (geb. 3.7.1883 in
Züschen,
gef. 12.9.1915), Max Stern (geb. 18.2.1894 in Breidenbach, gef. 18.10.1915),
Leopold Ulmann (geb. 1.9.1884 in Romrod, gest. an der Kriegsverletzung
27.3.1919), Sally Weinberg (geb. 31.12.1896 in Allendorf a.d. Lumda, gef.
21.3.1917) und Moses Max Windheil (geb. 29.4.1883 in
Amöneburg, gef.
26.11.1917). Außerdem sind gefallen: Moritz Katz (geb. 11.10.1886 in Gießen,
vor 1914 in Ludwigshafen wohnhaft, gef. 11.7.1916), Marco Loeser (geb. 4.11.1890
in Gießen, vor 1914 in Schwerin wohnhaft, gef. 7.10.1914), Unteroffizier Karl
Theodor Hoddes (geb. 11.5.1894 in Gießen, vor 1914 in
Bad Nauheim wohnhaft, gef. 27.1.1915).
Bereits sehr früh - Ende des 19. Jahrhunderts und seit der Zeit des Ersten
Weltkrieges - machte sich in Gießen ein starker Antisemitismus
bemerkbar. 1920 (!) beschwerte sich die Israelitische Religionsgesellschaft beim
Oberbürgermeister darüber, dass jüdische Schüler in den Schulen ständig gehänselt
und die Fenster jüdischer Wohnhäuser und der Synagogen eingeworfen werden.
1925 wurden 1.017 jüdische Einwohner in Gießen gezählt (3,0 % von
insgesamt 33.600 Einwohnern). Unter den jüdischen Einwohnern gab es damals fünf
Rechtsanwälte, drei Zahnärzte, vier Ärzte, sechs Lehrer, Studienräte und
Referendare, neun Fabrikanten (u.a. Seifenfabrik Sternberg, Lack- und
Farbenfabrik Sondheim), zwei Weinhändler, ein Juwelier; an Handwerkern gab es
acht Metzger, vier Schneider, je ein Bäcker, Schuster, Installateur,
Theaterarbeiter. Alle übrigen jüdischen Familienvorsteher waren als Kaufleute
und Händler tätig; einige Banken befanden sich in jüdischem Besitz oder
wurden von jüdischen Direktoren geleitet (u.a. Bankhaus Herz in der "Höhen
Bäue", Privatbank in der Bahnhofstraße/Westanlage mit Direktor Hofrat J.
Grünewald), Bankdirektor Heichelheim [Siegmund Heichelheim, Geh. Kommerzienrat
und Albert Heichelheim]). An der Universität gab es jüdische Dozenten
und Professoren, darunter der vielfach ausgezeichnete Mathematiker Prof. Dr.
Moritz Pasch (gest. 1930) und der Jurist (jüdischer Abstammung) Prof. Dr. Leo
Rosenberg.
1924 waren die Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde
Moritz Strauß (Schanzenstraße 22), Adolf Baer, Ludwig Liebmann, Leopold Mayer
und Siegmund Rosenbaum. Liberaler Provinzialrabbiner war Dr. Sander. Als Kantor
und Lehrer war Josef Marx tätig, als Gemeindesekretär Wilhelm Mühl, als
Organist Albert Kasten, als Rechner Heinrich Junker, als Synagogendiener Anton
Lehr und Benjamin Toronski. Den Religionsunterricht an den Volksschulen erteilte
Lehrer Grünebaum, den an den höheren Schulen Rabbiner Dr. Sander und Lehrer
Marx. An jüdischen Vereinen gab es u.a. den Israelitischen
Hilfsverein e.V. (gegründet 1908; 1924/32 unter Leitung von Rabbiner Dr.
Sander mit 100/120 Mitgliedern; Zweck und Arbeitsgebiete: Wanderfürsorge,
Wirtschaftsfürsorge), den Israelitischen Beerdigungsverein e.V. (gegründet
1867, 1924/32 unter Leitung von Ludwig Bock mit 150/256 Mitgliedern;
Zweck und Arbeitsgebiete: Krankenpflege, Bestattungswesen), den
Israelitischen Frauenverein (1932 unter Vorsitz der Frau von Rabbiner Dr.
Sander; Zweck und Arbeitsgebiet: soziale Fürsorge), den Synagogengesangsverein
(1924 unter Leitung von Isidor Berliner und 40 Mitgliedern), die Israelitische
Casino-Gesellschaft (1924 unter Leitung von Jacob Heilbronner und 110
Mitgliedern), eine Ortsgruppe des "Central-Vereins" (1924 unter
Leitung von Hermann Hammerschlag mit 150 Mitgliedern). Bis 1932 hatte sich auch
ein Verein Altersheim gegründet (1932 unter Vorsitz von Moritz
Sternberg, Marburger Straße 44; Zweck und Arbeitsgebiet: Bau eines
Altersheimes). An Stiftungen (Zweck: Unterstützung Hilfsbedürftiger)
gab es 1932: die Arnstein-Stiftung, Dr. Levi-Stiftung, Adolf-Buch-Stiftung,
Moritz Hirsch-Stiftung, Dr. Hugo Mayer-Stiftung, Heichelheim-Stiftung, Hermann-
und Louise Katz-Stiftung. 1932 waren die
Gemeindevorsteher der Religionsgemeinde Rechtsanwalt Eugen Rothenberger (1.
Vors., Bahnhofstraße 76), Sally Meyerfeld (2. Vors., Marktstraße 30), Adolf
Baer (3. Vors., Marktplatz 7) und zwei weitere Personen. Weiterhin war liberaler
Provinzialrabbiner Dr. Sander (wohnt Landgrafenstraße 8); Lehrer und Kantor war
weiterhin Josef Marx (wohnhaft Lonystraße 4). Die beiden hatten an den Schulen
der Stadt im Schuljahr 1931/32 insgesamt 127 Kindern den Religionsunterricht zu
erteilen.
1924 waren die Vorsteher der Israelitischen Religionsgesellschaft
(seit 1923 staatlich anerkannte öffentliche Gemeinde mit etwa 400 Mitgliedern)
Alfred Fröhlich (Nordanlage 31), Sigmund Hirsch, L. Wetterhahn und Sigmund Fuld.
Orthodoxer Provinzialrabbiner war weiterhin Dr. Leo Hirschfeld. Als Lehrer und
Kantor war Bernhard Klein tätig, als Synagogendiener ein Herr Hebell. Die
Religionsschule der Religionsgesellschaft besuchten 60 Kinder. 1932 waren
die Gemeindevorsteher Alfred Fröhlich (1. Vors.), Ferdinand Baer (2. Vors.,
Nordanlage 31), Salli Wetterhahn (3. Vors., Größerstraße). Orthodoxer
Provinzialrabbiner war weiterhin Dr. Leo Hirschfeld (wohnt Ludwigstraße). Als
Lehrer, Kantor und Schochet war weiterhin Bernhard Klein tätig (wohnt
Seltersweg 81). Er erteilte im Schuljahr 1931/32 etwa 30 Kindern den
Religionsunterricht. Rabbiner Dr. Hirschfeld war Leiter der Agudas Jisroel
Jugendgruppe.
1933 wurden 855 jüdische Einwohner in Gießen gezählt (2,4 % von
insgesamt 35.913 Einwohnern). In den folgenden Jahren ist ein großer Teil der jüdischen
Gemeindeglieder auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der
zunehmenden Entrechtung und der Repressalien weggezogen beziehungsweise
ausgewandert. Andere Personen sind von kleineren Orten der Umgebung noch in Gießen
zugezogen, sodass eine 1962 angefertigte Liste über die 1933 und später in Gießen
wohnenden jüdischen Personen insgesamt 1.229 Namen umfasst. Am 31.
August 1937 wurden noch 358 jüdische Personen in der Stadt gezählt, am 5.
August 1938 364, am 31. März 1939 287, am 31. Dezember 1940 183 und unmittelbar
vor Beginn der Deportationen am 5. Februar 1942 170 Personen. Am 15. Juli
1936 wurden im Gewerberegister der Stadt Gießen noch 129 Betriebe
genannt, die in "nichtarischem" Besitz waren, am 1. Oktober 1938 nur
noch 53, am 21. Januar 1939 nur noch sechs. Von den 465 nachweislich
ausgewanderten Personen konnten die meisten in die USA (176) und nach Palästina
(185) einreisen; etwa 450 Personen verzogen zwischen 1933 und 1941 in andere Städte,
viele nach Frankfurt oder Berlin.
An der Universität wurden die jüdischen Professoren / Dozenten bis spätestens
1936 allesamt entlassen.
Beim Novemberpogrom 1938 wurden die Synagogen zerstört (s.u.). Mehrere
Geschäfte, die noch im Besitz jüdischer Personen waren, wurden demoliert und
geplündert. Die meisten der jüdischen Männer wurden verhaftet und in das KZ
Buchenwald verschleppt. Durch ein Gesetz vom 30. April 1939 wurde die
Zusammenlegung jüdischer Familien in sogenannte "Judenhäuser"
vorbereitet. Die Zusammenlegung erfolgte bis 1941 in äußerst bedrängten Verhältnissen
in den Häusern Liebigstraße 33 und 37, Marburger Straße 44, Asterweg 53 und
Wetzlarer Weg 17. 1942 lagen die Ghettohäuser in der Walltorstraße 42
und 48 und in der Landgrafenstraße 8. Am 14. September 1942 wurden die in der
Stadt noch lebenden jüdischen Personen (141 Personen) sowie aus Orten der
Umgebung (neun aus Wieseck, 180 aus weiteren Orten) in einem Massenquartier in
der Goetheschule (Westanlage 43) eingesperrt. Am 16. September 1942 erfolgte
über den Güterbahnhof die Deportation (über Darmstadt in
Vernichtungslager des Ostens, teilweise in das Ghetto Theresienstadt). Nur fünf
[nach Angaben der Gedenktafel sechs] der damals deportierten Personen haben überlebt
(Salomon Max Baer, Dina Engel, Ludwig Rosenbaum, Johanna Sander und Louis
Stern). In der Stadt verblieben nur wenige in sogenannter "Mischehe"
lebenden jüdischen Personen. Sie wurden noch im Februar 1945 deportiert.
An die Deportation erinnert eine Gedenktafel an der Goetheschule mit der
Inschrift: "Westanlage 43 - In diesem Gebäude der Goetheschule wurden 1942
Mitte September 330 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Gießen und
Umgebung zusammengetrieben. Sie wurden in Viehwaggons in die
nationalsozialistischen Vernichtungslager verschleppt. Nur sechs von ihnen überlebten
die Hölle von Auschwitz und Theresienstadt und kehrten zurück".
Von den in Gießen geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen
Personen sind in der NS-Zeit umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): es sind nach
den vorliegenden Listen mindestens 236 Personen umgekommen / ermordet worden.
Über die nach 1945 wieder entstandene jüdische Gemeinde besteht eine
weitere Seite.
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Es bestehen die folgenden Textseiten:
Zur Geschichte der Synagoge
In der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gab es vermutlich
einzelne Betstuben in jüdischen Häusern.
Wann eine erste Synagoge erbaut
wurde, ist nicht bekannt.
Die alte
Synagoge in der früheren Zozelsgasse (bis 1865/67)
Nähere Kenntnis hat man erst von der sogenannten "alten Synagoge"
in der - auf Grund der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und dem
anschließenden veränderten Wiederaufbau - nicht mehr bestehenden Zozelsgasse
(nach ursprünglicher Adresse Gebäude Schulhof Nr. 60 im Altstadtbezirk [Literae]
A). Das Gebäude ist als Wohnhaus erhalten. Der Synagogensaal befand sich in dem
quer zur Straßen liegenden Gebäude mit geschweiftem hohem Walmdach; der
Synagogeneingang lag wahrscheinlich an der nordwestlichen Seite. Auch ein
rituelles Bad war in diesem Gebäude untergebracht. Wann diese alte Synagoge
erstellt wurde, ist nicht bekannt. Auf Grund der Entwicklung der Zahl jüdischer
Einwohner in Gießen ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts anzunehmen.
Bereits in der alten Synagoge war eine Orgel vorhanden, als Organist war neben
dem Dienst beauftragten christlichen Organist auch der "talentvolle"
Sohn von Rabbiner Dr. Levi - gemeint der spätere Generalmusikdirektor
Hermann Levi (1839-1900) - tätig, wie aus dem nachstehenden Artikel
hervorgeht:
Gottesdienste in der alten Synagoge mit Orgelbegleitung
(1852)
Artikel in der Zeitschrift "Der
Israelitische Volksschullehrer" vom Juli 1852 S. 174-175: "Aus
Gießen wird uns mitgeteilt: seit einem halben Jahre findet der Gottesdienst
in hiesiger Synagoge regelmäßig mit Orgelbegleitung hebräischer und
deutscher Gebete und Gesänge statt. In Verhinderungsfällen des
(christlichen) Organisten vertritt der talentvolle Sohn des hiesigen
Rabbiner Dr. Levi, ein Knabe von erst zwölf Jahren, dessen Stelle. Eine
Reihe erfreulicher Gedanken knüpft sich an diese Erscheinung;
insbesondere die Hoffnung, dass im ganzen weiten Kreisrabbinate, welches
viele strebsame Gemeinden und tüchtige Lehrer zählt, dieses Beispiel und
Vorbild zahlreiche Nachahmung finden werde. - Bei der kürzlich hier
vollzogenen Wahl eines neuen Stadtvorstandes ist, und zwar von
konservativer Seite, Herr Hofgerichts-Advokat Rosenberg, Mitglied des
israelitischen Religionsgemeinde-Vorstandes, mit ansehnlicher
Stimmenmehrheit in denselben gewählt worden. - Endlich mögen ihre Leser
noch erfahren, dass von elf hier studierenden hessen-darmstädtischen
Jünglingen unseres Glaubens drei ordentliche Stipendien aus der Staatskasse
oder dem Universitätsfond erhalten, gewiss ein Beweis wahrhaft humaner
Gesinnung unserer Staatsregierung und ein Zeichen nicht bloß papierner
Emanzipation." |
|
links:
Hermann Levi (1839-1900), der spätere Generalmusikdirektor in München -
Dirigent von Werken Richard Wagners: in seiner Jugend vertrat er den
christlichen Organisten in der alten Synagoge in
Gießen. |
Die
neue Synagoge (nach 1887 liberale Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinde,
1867 bis 1938)
Die alte Synagoge war durch die im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter stark
ansteigende Zahl der jüdischen Gemeindeglieder in der Mitte des 19.
Jahrhunderts zu klein geworden. 1865/67 wurde eine neue, repräsentative
Synagoge in der Südanlage erstellt. Die alte Synagoge wurde verkauft und
in der Folgezeit zu einem Wohnhaus umgebaut. Die Einweihung der neuen Synagoge
erfolgt durch Rabbiner Dr. Levi am 31. Mai 1867. In den vorliegenden
jüdischen Periodika wurde zwar kein Bericht zur Einweihung veröffentlicht,
doch erfolgte ein Hinweis auf die Veröffentlichung der zur Einweihung von
Rabbiner Dr. Levi gehaltenen Predigt:
Predigt zur Einweihung der neuen Synagoge
(1867)
Hinweis
auf die Predigt zur Synagogeneinweihung in der "Allgemeinen Zeitung
des Judentums" vom 9. Juli 1867: "Die 2. Predigt ist 'die
Synagogenweihe in Gießen, am 31. Mai 1867 von Dr. Levi,
Großherzoglicher Rabbiner der Provinz Oberhessen, Gießen 1867.' Wir
erhalten hier die Abschiedsrede in der alten Synagoge, die Weihegebete und
Predigt in der neuen. Alle drei Stücke sind trefflich an Form und Inhalt,
vom frömmsten Geiste in edelster Sprache beseelt. Text 3. Mose 26, 11-13.
Der Redner weist nach: 1) 'Israels neue Gotteshäuser zeugen davon, dass
Israels Glaube zwar alt, aber nicht veraltet ist; 2) dass er sich in
seinen Formen allen Bildungsstufen und allen Heimatverhältnissen
anschmiegt, und 3) zeugen sie davon, dass die Menschheit immer mehr und
mehr der höheren Vollendung entgegen reift, die ihr von den alten
Propheten als Endziel vorgesteckt und verheißen worden ist.' Die neue
Synagoge ist mit einer Orgel versehen, welche im Gottesdienste eine
wesentliche Verwendung gefunden." |
Über die Geschichte der Synagoge liegen einzelne Berichte
vor. Nachstehend ein Bericht über einen Einbruch in der Synagoge 1879. Hieraus
lässt sich einiges über die damals vorhandenen - wenn auch üblichen -
Kultgegenstände in der Synagoge entnehmen.
Einbruch in der Synagoge (1879)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 16. September 1879: "Gießen, 1. September (1879). Eine
Mitteilung höchst unerquicklicher Natur ist es, die ich Ihnen heute zu
machen habe. In der Nacht vom 28. auf den 29. August dieses Jahres wurde
in unserer fast noch neuen und schönen Synagoge von zwei hiesigen
Bewohnern eingebrochen und mit wahrem Vandalismus gehaust. Die entwendeten
und später in einem der Stadt nahe gelegenen Acker wieder aufgefundenen
Wertobjekte zeugten deutlich von der Zerstörungswut der Räuber neben
ihrer Raubsucht. Doch erzählen wir den Vorgang an Hand der Tatsachen. Dem
Synagogendiener, der, um Vorkehrungen für den Sabbat (Paraschat Ki
Teze, Schabbat mit der Toralesung Ki Teze = 5. Mose 21,10 -
25,19, das war am 30. August 1879) zu treffen, ins Gotteshaus getreten
war, zeigten sch schon an dem in der Vorhalle aufgestellten Kassaschranke
erhebliche Spuren eines gewaltsamen Einbruchsversuchs wobei ihm
gleichzeitig das Fehlen der dort angehängten und festgenieteten
Armenbüchse auffiel. (Diese und noch eine andere wurden später, ihres
Inhalts, etwa 30 Mark, entleert, wieder aufgefunden.) Aber noch schlimmer
sah es im Innern aus: der Schrank, in welchem die teils sehr wertvollen Parochet
(bzw. Parochot = Toraschreinvorhänge) ruhen, war gewaltsam
erbrochen, seines Inhalts größtenteils beraubt, und nur ein Teil eines
Samtvorhangs, nachdem die Goldstickereien mit einem Messer
herausgeschnitten waren, liegen geblieben. Nur das Parochet für Neujahr
und Jom Kippur war noch unversehrt, wenn auch beschmutzt, vorhanden.
Außerdem waren noch folgende Gegenstände annektiert: zwei silberne
Becher, eine desgleichen (sc. silberne) Jad (Torazeiger) und zwei
solche Ez Chajim (sc. Stäbe, auf denen die Tora gewickelt ist);
sogar die messingene Menora war nicht verschmäht worden. Der
Aron HaKodesch (Toraschrein) war angebohrt; da diese Arbeit den Dieben
jedoch zu zeitraubend erschien, so zogen sie es vor, denselben zu
erbrechen. Ja, sogar der Schulchan (Vorlesetisch) zeigt Spuren der
Verstümmelung.
Der Synagogendiener begibt sich sogleich zu unserem Rabbiner, Herrn Dr.
Levi. Dieser eilt herbei. Wer aber beschreibt seinen Schrecken, als
er beim Öffnen des Toraschreines wahrnimmt, dass die frevelhafte Hand
sich nicht entblödet hat, auch die Torarollen zu berauben. Zwar
haben die diese selbst nicht zu verstümmeln gewagt, aber die vier
schönsten Mäntelchen von rotem Samt und goldgestickter Inschrift hatten
sie geraubt.
Nachdem nun die Torarollen wieder in Ordnung gebracht worden waren,
wurde von dem Vorfall Anzeige gemacht und die hiesige Polizei (sehr wohl
organisiert und ausgezeichnet geführt) zum Auffinden der Frevler in
Bewegung gesetzt. Schon am Nachmittag desselben Tages - Freitag - waren
die Übeltäter dingfest gemacht und die geraubten Gegenstände
gerichtlich eingebracht. Die Ehefrau des einen Diebes hatte die Sache
selbst zur Anzeige gebracht, und so erwartet denn die Diebe eine nicht
geringe Strafe, zumal man ihnen auch noch einen eklatanten Kirchenraub in
V. zuschreibt, der damals die Polizei starb beschäftigte, dessen Täter
bis heute aber noch nicht ermittelt werden konnten.
Man kann sich lebhaft denken, dass dieser Vorgang geeignet war, alle
Gemüter in Schrecken und Aufregung zu versetzen. Am Samstag sprach unser
Rabbiner mit gewohnter Beredsamkeit über den Vorgang, dessen Folgen durch
die glückliche Fügung bald überwunden sein werden." |
|
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10. September 1879: "Gießen,
29. August (1879). Der Kirchenraub scheint in unserer Gegend epidemisch zu
werden. Nachdem aus mehreren Orten solche Einbrüche in Kirchen berichtet
wurden, war in verwichener Nacht unsere Synagoge zu diesem Bubenstück
ausersehen; die wertvollsten Vorgänge und Torabegleitung sind teils
entwendet, teils sind die Goldstickereien herausgeschnitten worden. Auch
an dem Silberschranke sind Versuche gemacht worden, derselbe konnte jedoch
nicht erbrochen werden. - Soeben, vor Abgang dieses Berichtes, sind zwei
Individuen verhaftet, die der Tat auch sofort überwiesen werden konnten;
die gestohlenen Sachen wurden in einem defekten Zustande
aufgefunden." |
Der Gottesdienst anlässlich des Geburtstages des
Kaisers soll weiterhin am Schabbat gefeiert werden (1892)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 19. Februar 1892: "Gießen, im Februar (1892). Auf die
Anfrage des Herrn Regiments-Kommandeurs Oberst Perthes hier, ob ich
beabsichtige, zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers am
2. Januar besonderen Militärgottesdienst abzuhalten, erwiderte ich das
Folgende: 'Auf das verehrliche Schreiben Eurer Hochwohlgeboren vom 11.
dieses Monats beehre ich mich ganz ergebenst zu erwidern, dass ich glaube,
bei meiner bisherigen Gepflogenheit, den Geburtstag Seiner Majestät des
Kaisers, gleich dem Seiner Königlichen Hoheit unseres Großherzogs am
Samstag vorher zu zelebrieren, verbleiben zu sollen, und zwar aus
folgendem, ich hoffe Ihnen einleuchtendem Grunde: Dem militärischen
Gottesdienste am Geburtstage Seiner Majestät des Kaisers in der
evangelischen und katholischen Kirche wohnen neben den vielen Hunderten
von Gemeinen alle militärischen Chargen vom Regiments-Kommandeur bis zum
Unteroffizier herab, samt ihren Frauen und Familien und viele andere
Staatsbedienstete bei. Die resp. Geistlichen sprechen da zu diesen, nicht
minder wie zu dem gemeinen Soldaten; und das gestaltet sich zu allgemein
erhebender Feier. Der militärische Gottesdienst dagegen, den der geh.
Unterzeichnete an dem Allerhöchsten Geburtstage für die wenigen
jüdischen Soldaten anordnete, und dem nur diese wenigen beiwohnen,
verdient kaum diesen Namen, er wäre aller Solennität, aller Erhebung und
Andacht bar. Wohingegen die Verbindung der Geburtstagsfeier mit dem
vorangehenden Sabbatgottesdienst, dem die ganze Gemeinde anwohnt, ihr die
rechte Weihe gibt. Ich bitte darum verehrliches Regiments-Kommando
ergebenst, die jüdischen Soldaten der Garnison auf Samstag, den 23.
Morgens 9 Uhr zur Synagoge befehlen zu wollen.' - Hierauf erhielt ich
folgendes Schreiben: 'Euer Hochwürden beehrt sich das Regiment auf das
gefällige Schreiben vom 12. dieses Monats ergebenst mitzuteilen, dass es
dem Wunsche Eurer Hochwürden gemäß am Samstag, den 23. dieses Monats
Morgens 9 Uhr sämtlich jüdische Soldaten des Regiments zur Synagoge
schicken wird.' - Und so geschah es auch und so gedenke ich es auch weiter
zu halten. Rabbiner Dr. Levi." |
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 1. April 1892: "Gießen, 21. März (1892).
In der hiesigen Synagoge fand gestern Morgen auf Anordnung des
Großherzoglichen Rabbinats für den dahingeschiedenen hochseligen Großherzog
Ludwig IV. ein Trauergottesdienst statt, dem sämtliche
Gemeindeangehörigen und die hier garnisonierenden jüdischen Soldaten
beiwohnten. Die Trauerrede des greisen Oberrabbiners Herrn Dr. Levi, sowie
die vom Kantor und Synagogenchor ausgeführten Gesänge wirkten auf alle
Anwesenden tief ergreifend. Auch in allen übrigen Synagogen des
Rabbinatsbezirks fanden Trauergottesdienste statt." |
1892 wurde die Synagoge wesentlich erweitert.
Sie hatte danach 272 Männer- und 196 Frauenplätze. In der Synagoge befand sich
eine Orgel. 1912
erfolgte eine gründliche Innenrenovierung und Neubemalung durch Malermeister
Groß:
Die Synagoge wurde im Inneren neu hergerichtet und
ausgemalt (1912)
Artikel
in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 2. Oktober 1912: "Gießen, 24. September (1912). Die große
Gemeinde hat in den letzten Monaten die Synagoge im Innern neu
herrichten lassen. Die Kunst des Malermeisters Groß hat den
inneren Raum des Gotteshauses in byzantinischem Geschmack geziert. Die
Wände des Baues wurden mit einem in braungrauem Ton gehaltenen mattgold
durchwirkten stoffähnlichen Muster gemalt. Darüber streckt sich die
kräftige Balkendecke, in deren himmelblauen Feldern goldene Sterne zu
sehen sind. Die erst vor einigen Jahren angebrachten bronzenen Beleuchtungskörper,
die für elektrisches Licht eingerichtet sind, unterbrechen die Malerei
wirksam. Die an drei Seiten den Innenraum der Synagoge umziehende Galerie
und die Orgel sind passend zur Wandmalerei getönt und durch kräftiger
wirkende Vergoldung hervorgehoben. Die in grünem Marmor gehaltenen
Säulen mit ihren reich vergoldeten Kapitellen, die die Galerie tragen,
heben sich wirkungsvoll ab. Den Glanzpunkt der Innenausstattung bildet die
heilige Lade, die ein Meisterwerk darstellt. Die halbrunde, oben
muschelartig abgeschlossene Nische ist in hellen Farben und matter
Vergoldung behandelt. Die Nebenräume und Treppenaufgänge sind ebenfalls
im byzantinischen Stil, aber einfacher als der Hauptraum, hergestellt. Die
Synagoge soll im kommenden Jahre auch äußerlich erneuert werden."
|
1917 hat - mitten im Ersten Weltkrieg - die
Israelitische Religionsgemeinde das 50-jährige Bestehen der Synagoge
gefeiert:
50-jähriges Bestehen der Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinde (1917)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 9. Juni 1917: "Die Israelitische Religionsgemeinde in Gießen
feierte am 27. Mai, dem ersten Schawuottag (sc. Wochenfest), das 50-jährige Bestehen der
Synagoge in der Südanlage. Aus diesem Anlass hat der Gemeindevorstand
eine ansehnliche Summe als Stiftungsfonds bereitgestellt, über dessen
Verwendung erst nach dem Kriege endgültiger Beschluss gefasst werden
soll." |
60-jähriges Bestehen der Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinschaft (1927)
Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und
Waldeck" vom 13. Mai 1927: "Gießen. ... Am 6.
Juni begeht die Religionsgemeinschaft die Feier des 60-jährigen Bestehens
der 1867 erbauten Synagoge, die 1892 beim 25-jährigen Jubiläum noch eine
Vergrößerung erfuhr. Aus diesem Anlass findet ein Festgottesdienst
statt..." |
Die (orthodoxen) Synagogen der Israelitischen Religionsgesellschaft (1867, 1899
bis 1938)
1887 wurde eine erste Synagoge eingerichtet. Von 1889 liegt ein Bericht
über die Einweihung einer Tora-Rolle in dieser Synagoge vor:
Einweihung einer Tora-Rolle in der Synagoge der
Religionsgesellschaft (1889)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
11. November 1889: "Gießen, im November (1889). Am jüngst
verflossenen Simchat Tora (sc. war am 18. Oktober 1889) beging die
hiesige Religionsgesellschaft in ihrer Synagoge eine schöne und erhebende
Feier. Dieselbe legte Zeugnis ab, von der gedeihlichen Entwicklung dieser
Gesellschaft und von dem religiösen Eifer, der dieselbe in allen ihren
Mitgliedern beherrscht.
Einige Mitglieder der Religionsgesellschaft hatten den Plan gefasst, auf
ihre Kosten eine Sefer-Tora (Torarolle) bei Herrn Grünebaum in Fulda
schreiben zu lassen. Die Einweihung dieses Sefers fand nun am genannten Simchat
Tora statt. Aufs Schönste war die Synagoge mit Tannenreis und
Topfgewächsen geschmückt. Das Sefer selbst, befand sich bei einem
Mitgliede der Gesellschaft in der Nähe der Synagoge. Von dort holte es
der erste Vorstand, Herr A. Marcus, in Begleitung der zwei ältesten
Mitglieder der Gesellschaft ab. In der Synagoge hatte unterdessen der
Kantor und Lehrer der Religionsgesellschaft, Herr B. Klein, unter
feierlicher Stille, in der bis auf den letzten Platz gefüllten Synagoge
den Vortrag des 19. Psalms angestimmt. In dem Augenblicke, als er den Vers
vortrug 'Die Tora des Ewigen ist untadelig, seelenerquickend...'
(Psalm 19,8) erschien Herr Marcus mit dem neuen Sefer, während die
übrigen Seforim (Torarollen) der Gesellschaft von anderen Mitgliedern
entgegen getragen wurden. Unter Leitung des Kantors wurde der Gesang Mah
towu unter Begleitung einiger direkt dazu eingeübter Mitglieder der
Gesellschaft, ausgeführt. Hierauf wurden die Seforim (Torarollen) in den
Toraschrein gestellt und nach Absingung verschiedener Psalmen, des 'Dir
ist es gezeigt worden, dass Du erkennest...' (nach 5. Mose 4,35) und
der Umzüge (sc. mit den Torarollen) wurde der Schluss der Tora,
die Parascha Wesot Habracha (sc. 5. Mose 33,1 - 34,12, der
Wochenabschnitt in der Woche von Simchat Tora) aus dem neuen Sefer
verlesen. Nach Beendigung der Toravorlesungen nahm Herr Lehrer Klein das
Wort zu einem Vortrage und führte etwa folgendes aus:
Es sei doch auffallend, dass man an dem Tage, da man den Gemeinden Israels
den Tod des großen Lehrers Moses verkündet, den herbsten aller Verluste,
dass man an diesem Tage in allen Gemeinden Israels einen Freudentage
begehe.
Der Redner suchte diesen offenkundigen Zwiespalt dadurch auszugleichen,
indem er erklärend ausführte, dass die Freude berechtigt sei, in Folge
des Vermächtnisses, das uns dieser Lehrer und Meister hinterlassen hat.
Wohl hat Moses sein ganzes Leben dem Volke Israel geweiht, und es aus der
niedrigsten Knechtschaft zu einem höheren Leben geführt, aber auch in
seinem Tode noch hat er dem Volke genützt, indem er ihm die heilige Tora,
jenes unveräußerliche Gut, hinterlassen. Redner dankte hierauf den
Spendern des neuen Sefer, dem Frauenverein der Religionsgesellschaft,
welche in edler Weise ein prächtiges Mäntelchen für die neue Torarolle
gestiftet. Mit dem Vers: 'Erhöre Ewiger, die Stimme Jehudas, und zu
seinem Volke geleite ihn; ihm zur Seite streite für ihn, und Beistand sei
ihm gegen seine Dränger' (5. Mose 33,7) schloss Herr Klein
seine Rede, indem er Gott anfleht, das Gebet der hier Versammelten zu
erhören, und ihnen auch ferneren Schutz gegen ihre Feinde angedeihen zu
lassen.' Einen nachhaltigen Eindruck hat diese schöne Feier auf die
Herzen aller Zuhörer geübt. Möge die israelitische
Religionsgesellschaft weiter Gelegenheit haben, so wahrhaft religiöse
Feste zu feiern." |
Die Israelitische Religionsgesellschaft plant den Bau einer neue Synagoge
(1894)
Anmerkung: im nachstehenden Artikel wurden die beiden Gemeinden verwechselt.
Da von der Israelitischen Religionsgemeinde die Synagoge 1893 erweitert wurde,
bezieht sich der Plan des Baus der zweiten Synagoge auf die Israelitische
Religionsgesellschaft.
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
13. August 1894: "Gießen, 4. August (1894). Der 'Mainzer
Anzeiger' schreibt: Hier soll eine zweite Synagoge errichtet werden und
zwar durch die israelitische Religionsgemeinde; die bereits vorhandene, im
vorigen Jahre erweiterte Synagoge gehört der israelitischen
Religionsgesellschaft." |
Für die Synagoge, Mikwe und Religionsschule der
Israelitischen Religionsgesellschaft wird ein Bauplatz erworben
(1898)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
28. Februar 1898: "Gießen. Vor einigen Tagen hat die
israelitische Religionsgesellschaft hier, zum Zwecke ihrer bald neu zu
errichtenden Synagoge, Mikwoh und Religionsschule, einen der Stadt
gehörigen, im Mittelpunkt derselben liegenden Bauplatz erworben. Mit
Beginn des Frühjahres wird unter göttlichem Beistande mit dem Bau
begonnen werden. Man beabsichtigt, daneben noch weiteres Terrain zu
kaufen, um ein Gemeindehaus zu bauen." |
Einweihung der Synagoge der Israelitischen
Religionsgesellschaft (1899)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 27.
Juli 1899 (leicht abgekürzt wiedergegeben): "Gießen, 23.
Juli (1899). Eine wirkliche Freude über die (Erfüllung) eines
göttlichen Gebotes ist es, von der ich Ihnen heute berichten will,
eine Freude über die Erfüllung eines göttlichen Gebotes in des
Wortes wahrster und schönster Bedeutung. Darf die Einweihung
einer Synagoge im Allgemeinen als eine solche bezeichnet werden, so
gilt dies ganz besonders von dem einer Religionsgesellschaft, deren
Synagoge hervorgerufen wurde durch (hebräisch und deutsch:) die
religiöse Zerrüttung, die sich innerhalb der Gemeinde geltend machte.
Wer hätte aber noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit in Anbetracht der
hiesigen religiösen Zustände nicht geglaubt, dass hier in Gießen ...,
dass hier gänzlich die Errichtung von jüdischen Gemeindeinstitutionen nach
traditioneller Art ausgeschlossen sei? Und doch zeigen uns die eben
erlebten Festlichkeiten, dass das Unwahrscheinlichste zur Wirklichkeit
geworden ist, Gott hat geholfen, was zu seiner Ehre unternommen
wurde, er hat es gelingen lassen. Freitag Nachmittag, 1 Uhr fand in dem
alten Betlokale ein Abschiedsgottesdienst statt. Nachdem man Mincha
gebetet hatte, hielt der Rabbiner der Religionsgesellschaft, Herr
Provinzial-Rabbiner Dr. Hirschfeld - sein Licht leuchte - die Abschiedspredigt,
in welcher er u.a. den Gedanken ausführte: Beim Auszug aus Ägypten
heißt es: 'denn |
zuerst
ein Fest zu Gottes Ehre, so verlassen auch wir die Stätte, die uns 12
Jahre lang als Gotteshaus gedient nicht, ohne zuvor noch einmal hier unser
Gebet zu Gott emporgesandt zu haben. Nach der Predigt wurden die
Torarollen feierlich ausgehoben und an ihre Träger übergeben. Vor dem
Betlokal wurden sie unter eine Chuppa gebracht, und nun setzte sich
der Zug zur neuen Synagoge in Bewegung, den die Schuljugend eröffnete.
Ihr folgte Musik, der Kantor mit dem Synagogenchor, die
Schlüsselträgerin, die Toraträger, unter der von vier jungen Herren
getragenen Chuppa, der Provinzialrabbiner, der Vorstand, die Gäste
und die Mitglieder der Religionsgesellschaft. Vor der neu erbauten
Synagoge traf der Vertreter der Großherzoglichen Regierung,
Großherzoglicher Provinzial-Direktor von Bechtold ein, dem der Schlüssel
überreicht wurde. Dieser übergab ihn dem Vorstand der
Religionsgesellschaft, Herrn Bankier Grünewald, der ihm dem Herrn
Rabbiner einhändigte, welcher nun die Synagoge mit dem Vortrag des 'Öffnet mir die Tore der
Gerechtigkeit...' öffnete. Nach dem Eintritt
in die Synagoge sang der von Herrn Kantor Klein trefflich geschulte Chor
das Mah Towu, worauf das Anzünden des Ner tamid (Ewiges
Licht) mit einem ergreifenden Gebete des Herrn Rabbiners - sein Licht
leuchte - erfolgte. Daran reihte sich der Chorgesang 'Verherrlicht den
Ewigen mit mir...' (nach Psalm 34,4), und die Umzüge mit den Torarollen,
denen sich das feierliche Einheben der Torarollen anschloss. Nun
hielt Herr Rabbiner Dr. Hirschfeld - sein Licht leuchte - die nach
Form und Inhalt ausgezeichnete Festpredigt, welche mit einem Gebete auf
den Landesfürsten schloss. Als Text hatte der verehrte Redner den Vers 'Ich
freue mich mit denen, die zu mir sprechen: Ins Haus des Ewigen lasset uns
gehen...' (Psalm 122,1) zu Grunde gelegt. Mit dem Absingen des Psalmes
150 endete die Einweihungsfeier, die einen erhebenden Eindruck bei
allen Anwesenden hervorbrachte. Es war eine wirklich gelungene Feier, was
wir in erster Linie den großartigen rhetorischen Leistungen unseres
verehrten Herrn Rabbiners, sowie den gesanglichen unseres sehr verdienten
Kantors, Herrn Klein mit dem von ihm geleiteten Chor zu danken haben.
Samstag wurde der Frühgottesdienst ebenfalls durch feierliche
Chorgesänge und Predigt festlich gestaltet. Nachmittags fanden sich die
Gemeindemitglieder und zahlreiche Gäste zu geselliger Unterhaltung auf
Textors Terrasse und nach Sabbat-Ausgang zu einer Abendunterhaltung im
Hotel Großherzog von Hessen zusammen. - Sonntag Nachmittag 1 1/2 Uhr fand
ein Festbankett statt, bei dem Herr Vorstand Grünewald die Erschienenen
mit herzlichen Worten begrüßte. Der Herr Provinzial-Rabbiner brachte
einen mit großer Begeisterung aufgenommenen Toast auf Seine Königliche
Hoheit den Großherzog aus, Herr Versicherungs-Inspektor Fröhlich auf das
Ehrenmitglied der Religions-Gesellschaft, Herr Provinzialrabbiner Dr. Cahn
in Fulda, Herr Austerlitz, der des verstorbenen Mitbegründers
der |
Religionsgesellschaft,
Herrn Markus gedachte, auf die derzeitigen Vorstände, Herr
Vorstandsmitglied Rosenbaum auf Herrn Provinzial-Rabbiner Dr. Hirschfeld
und alle die, welche sich um den Bau Verdienste erworben haben. Dann
ergriff Herr Vorstand Grünewald nochmals das Wort, um Herrn Kantor Klein
für seine großen Verdienste und vielen Bemühungen im Interesse der
Religionsgesellschaft zu danken. Es brachte dann noch Herr Cleve einen
Toast auf die Damen aus; Herr cand. phil. Bamberger rief der
Religionsgesellschaft ein herzliches Masel tow zu und leerte sein
Glas auf die glückliche Erhaltung der neuen Synagoge in und durch
Tora und Gottesdienst; Herr cand. phil. B. Hamburger regte in seinem
Toast Pflege der Tora innerhalb der Religionsgesellschaft durch
eine Chewra (Verein) an, was begeisterte Aufnahme fand und mit
Gottes Hilfe auch verwirklicht werden wird. Herr cand. Epstein brachte
seine Wünsche im klassischen Hebräisch zum Ausdruck. Nachdem mit dem
Tischgebet die herrliche Versammlung gemäß dem göttlichen Gebot beendet
war, verrichtete man gemeinschaftlich das Mincha-Gebet und trennte
sich in fröhlicher Festesstimmung gegen 6 1/2 Uhr, um sich um 8 Uhr zu
einem Vergnügungsabend wieder zusammen zu finden. Die von Herrn Kantor
Klein für diesen Abend mit einer Anzahl von ehemaligen und jetzigen
Schülern und Schülerinnen unserer Religionsschule eingeübten
Theaterstücke, sowie die vorgeführten lebenden Bilder, fanden alle
reichlichen, wohlverdienten Beifall. Die Gemeinde brachte ihm ihren Dank
durch Überreichung eines wertvollen Pokals zum Ausdruck. Erst in den
frühen Morgenstunden verließen die Festteilnehmer den Saal, in dem man
so herrliche Stunden erlebt hatte. Unserer Religionsgesellschaft aber
rufen wir zu: sei stark und mutig! Möge es ihr auch weiter
gelingen, mit Gottes Hilfe unter der Leitung unseres verehrten
Herrn Rabbiners - sein Licht leuchte - sich immer weiter zu
entfalten, und wirklich jüdisches Leben sich immer mehr und mehr
entwickeln sowohl hier als in unserer Provinz." |
Die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft
verfügte über etwa 200 Sitzplätze sowie über ein rituelles Bad.
Die Zerstörung der beiden Synagogen 1938
Beim Novemberpogrom 1938 wurden die beiden Synagogen in der Südanlage und in der Steinstraße durch SA-Männer demoliert, geplündert und angezündet. Die anwesende Feuerwehr musste sich auf den Schutz der Nachbarhäuser beschränken. Wenige Tage nach dem Brand
ließ die Stadtverwaltung (die Synagogenruine in der Südanlage am 16. November
1938) die Brandruinen sprengen und den Schutt abfahren, an dem zahlreiche Gießener für Auffüllarbeiten Interesse hatten.
Innerhalb von einer Woche waren die Ruinen der Synagogen beseitigt.
Für beide zerstörte Synagogen gibt es Gedenktafeln (eine Tafel vor der Kongresshalle am Berliner Platz / Südanlage; die zweite in der Steinstraße 8). Die Inschrift der Gedenktafel vor der Kongresshalle lautet: "In memoriam. 1867-1938 stand an dieser Stelle die ältere der beiden Synagogen der Jüdischen Gemeinde unserer Stadt. Beide Gotteshäuser wurden am 10.11.1938 von Nationalsozialisten niedergebrannt".
Die Gedenktafel am Standort der Synagoge der Israelitischen
Religionsgesellschaft in der Steinstraße wurde am 10. November 2024 neu
angebracht, nachdem sie während der Sanierung eines Wohnbau-Gebäudes an ihrem
Standort vorübergehend eingelagert war.
Adressen/Standorte der Synagoge:
alte Synagoge vor 1867: ehemalige Zozelsgasse 9, jetzt
Dammstraße 11
neue Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinde 1867 bis
1938: Südanlage 2 (ehem. Hindenburgwall)
neue Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft 1899
bis 1938: Steinstraße 8, Nordanlage
Fotos
(Quelle: sw-Fotos des alten Synagogengebäudes: Altaras S.
116; historische Aufnahmen der Synagogen 1867 / 1899: Arnsberg Bilder S. )
Die alte Synagoge (bis
1865/67) |
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Blick in die frühere
Zozelsgasse um 1900,
links in der Bildmitte die ehemalige Synagoge |
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Südwestliche Seite der
ehemaligen
Synagoge (Aufnahme vom Juli 1987) |
Blick auf das Gebäude der
ehemaligen
Synagoge von der Dammstraße aus gesehen |
Die nordöstliche Seite mit
den
teilweise massiven Außenwänden |
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Die (liberale)
Synagoge
in der Südanlage |
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Die 1867 eingeweihte
Synagoge
wurde 1938 zerstört
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Foto um 1918:
rechts das Stadttheater, links gegenüber lag die Synagoge bis zu ihrer
Zerstörung im November 1938; vorne die Bürgermeisterei. |
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Die (orthodoxe)
Synagoge
in der Steinstraße |
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Die 1899 eingeweihte
Synagoge in der Steinstraße
wurde 1938 zerstört |
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Fotos der
Gedenktafeln werden noch ergänzt. |
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Erinnerungsarbeit
vor Ort - einzelne Berichte:
Februar
2009:
Erneute Verlegung von Stolpersteinen - ausführlich siehe www.stolpersteine-giessen.de |
Artikel
im "Gießener Anzeiger" vom 13. Februar 2009 (Artikel):
Lebensgefährlicher Einsatz für das Vaterland zählte nicht mehr.
Studienrat Dr. Siegfried Kann und seine Familie "wurden ausgelöscht" - In der Liebigstraße 37 "gelebt und integriert" - Freiwilliger im Ersten Weltkrieg
GIESSEN (hh). An seinem letzten Schultag trug er einen schwarzen Anzug. Und das Eiserne Kreuz 1. Klasse deutlich sichtbar am Revers. Denn Dr. Siegfried Kann war für seine Tapferkeit im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden. Das aber war keineswegs seine einzige Erinnerung an die Kämpfe, zu denen er sich "aufgrund seiner patriotischen Gesinnung" freiwillig gemeldet hatte...". |
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Artikel im "Gießener Anzeiger" vom 14. Februar 2009 (Artikel):
"'Automatisch eine Verbeugung' vor den NS-Opfern.
Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt weitere elf "Stolpersteine" in der Innenstadt - Schüler der Liebigschule rezitieren Gedicht - Moment des Innehaltens...". |
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Artikel im "Gießener
Anzeiger" vom 4. Juli 2009 (Artikel):
Ganze Arbeit geleistet gegen das Vergessen - "Stolperstein"-Projekt zur 72-Stunden-Aktion vorgestellt...
GIESSEN (juf). Im Rahmen der deutschlandweiten Aktion der Katholischen Jugend "72-Stunden - Uns schickt der Himmel" vom 7. bis 10. Mai sind viele Projekte entstanden. Auch in Gießen haben Jugendliche ganze Arbeit geleistet. So hat die Gruppe "Bonibertus", bestehend aus zwölf Jugendlichen der Gemeinden St. Albertus und Bonifatius, die Aufgabe erhalten, einen Film über die Gießener "Stolpersteine" zu drehen..." |
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Oktober
2009: dritte Verlegung von
"Stolpersteinen" in Gießen |
Artikel im "Gießener Anzeiger" vom 22. Oktober 2009 (Artikel):
Emotion statt Routine: Stolpersteine zum dritten Mal verlegt
Gießen (mö). Gunter Demnig ist ein schneller und stiller Arbeiter. Nach weniger als zwei Minuten sind die zwei mit einer Messingplatte versehenen Pflastersteine eingepasst. Demnig wäscht den feinen Kies mit Wasser von dem goldglänzenden Metall ab, dann legt jemand ein Rosensträußchen daneben, von der anderen Seite wird ein Teelicht dazugestellt. Dieses Prozedere wiederholt sich gestern Morgen an insgesamt zehn Stellen in
Gießen und Wieseck. Zur Routineangelegenheit wird die dritte Verlegung von
'Stolpersteinen' zur Erinnerung an Opfer des Holocaust aber nicht. Wer dabei ist, erlebt Momente stummer Emotion..."
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Februar
2010: Vortrag über
"Schüler-Schicksale in der NS-Zeit" |
Artikel (kjf) im "Gießener
Anzeiger" vom 26. Februar 2010 (Artikel):
"Schüler-Schicksale in der Nazi-Zeit
GIESSEN. "Operation Ludwig": LLG-Lehrer Weckemann berichtet.
(kjf). Gunter Weckemann, Lehrer am Landgraf-Ludwigs-Gymnasium (LLG), berichtete im Café Türmchen einer Gruppe von Schülern und Kollegen vom Umgang der traditionsreichen Gießener Schule mit dem staatlich befohlenen Antisemitismus in den Jahren 1933 bis 1945...". |
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September
2010: Vierte Verlegung von
"Stolpersteinen" in Gießen |
Artikel
in der "Gießener Allgemeinen" vom 2. September 2010 (Artikel):
"Fast 100 Stolpersteine für Gießener Nazi-Opfer
Gießen (pd). Am kommenden Mittwoch kommt es zur vierten Verlegung von Stolpersteinen in Gießen, mit denen an die Opfer der Nazi-Herrschaft erinnert wird...." |
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Bericht
über die vierte Verlegung der "Stolpersteine" im
"Gießener Anzeiger" (fod) vom 9. September 2010 eingestellt
als pdf-Datei. |
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September
2011: Neue Gedenktafel für Gießener
Synagogen |
'Wir haben eine historische Verantwortung' –Gedenktafel für Gießener Synagogen eingeweiht
Dieser Artikel ist auch
als pdf-Datei eingestellt. |
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November
2011: Gedenken an Reichspogromnacht
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Artikel in der "Gießener
Allgemeinen" vom 10. November 2011: "Gedenken an
Reichspogromnacht.
Gießen (kw). 'Wir verneigen uns vor den Opfern, wissend um die
Verantwortung für das 'Nie wieder''. Mit diesen Worten beschloss
Oberbürgermeisterin Dietling Grabe-Bolz am Mittwochabend die Reden bei
der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht...."
Link
zum Artikel |
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August
2013: Fünfte Verlegung von
"Stolpersteinen" in Gießen |
Artikel in der "Gießener
Allgemeinen" vom 27. August 2013: "'Sie waren unsere Nachbarn'
Gießen (mö). 'An einem heißen Sommertag im Juni 1943 mussten wir nach Idstein. Meine Schwester war die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Da lag sie, mit ihren blauen, starren und gebrochenen Augen. Das war ein traumatisches Erlebnis für
mich.' Diese Worte von Helmut Balser waren gestern Vormittag der bewegende Höhepunkt beim Auftakt der fünften Verlegung von Stolpersteinen in Gießen. In der Friedensstraße gedachten rund 50 Menschen den Euthanasieopfern Ursula Balser und Lotte
Herrnbrodt..."
Link
zum Artikel
Anmerkung: bei der fünften Verlegeaktion wurden insgesamt 31
Stolpersteine verlegt. Weitere bei www.stolpersteine-giessen.de |
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November
2014: Gedenken an
Reichspogromnacht |
Artikel in der "Gießener
Allgemeinen" vom 10. November 2014: "Als auch in Gießen die Synagogen brannten
Gießen (csk). Die Stadt, die jüdische Gemeinde und die christliche Kirchen haben am Gedenkstein vor der Kongresshalle der Pogromnacht vor 76 Jahren gedacht..."
Link
zum Artikel |
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Januar
/ Juli 2016: In Heuchelheim werden
"Stolpersteine" verlegt |
Artikel in der "Gießener Allgemeinen"
vom 5. Januar 2016: "Jeder Stein ein Schicksal
Heuchelheim (so). Der Künstler Gunter Demnig wird am 9. Juli dieses Jahres in Heuchelheim Stolpersteine verlegen in Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus am unteren Bieberbach.
In der Weihnachtswoche hat die 'Stiftung Stolpersteine' in Köln diesen Termin bestätigt für das Verlegen von zwölf Steinen an fünf Stellen in der Wilhelmstraße und in der Kinzenbacher Straße, der Bachstraße und der Gießener Straße. Erwartet werden zu diesem Anlass aus Israel auch Angehörige der Familie Süßkind. Das teilte Pfarrerin Cornelia Weber von der Martinsgemeinde auf Anfrage mit. Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde, aber eben auch ihr persönlich war und ist das Erinnern ein besonderes Anliegen..."
Link
zum Artikel |
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März
2016: Sechste Verlegung von
"Stolpersteinen" in Gießen
Anmerkung: am 23. März 2016 fand eine sechste Verlegung von
"Stolpersteinen" in Gießen statt. Es wurden 19
Gedenksteine an sechs Adressen in der Innenstadt verlegt, drei davon, die
an Sinti erinnern, die in Auschwitz ermordet wurden. Für jüdische
Einwohner wurden Gedenksteine verlegt zur Erinnerung an Gustav Gutenstein,
Helene Gutenstein geb. Nussbaum, Heinz Gutenstein und Berta Nussbaum (Plockstraße
12/14), an Henriette Homberger geb. Grünebaum (Plockstraße 11), Louis
Katz und Anna Katz sowie Sally Katz und Paula Katz (Bahnhofstraße 14),
Betty Stern, Ludwig Stern (Bahnhofstraße), Moritz Rosenbaum, Ludwig
Rosenbaum, Irma Rosenbaum, Tochter Irma Rosenbaum, Reneé Rosenbaum
(Kirchenplatz). |
Artikel von Heidrun Helwig im
"Gießener Anzeiger" vom 20. Februar 2016: "Diskriminiert,
entrechtet und ermordet..."
Link
zum Artikel |
Diskriminiert, entrechtet und ermordet (Gießener Anzeiger, 20.02.2016) |
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Juni 2016:
Auch in Heuchelheim werden
"Stolpersteine" verlegt |
Artikel von Ines Jachmann im "Gießener
Anzeiger" vom 4. Juni 2016: "Alles fing mit einer roten Farbspur an.
HEUCHELHEIM - Wettenberg hat sie, Buseck, Hungen, Lollar, Pohlheim,
Staufenberg auch. Selbst in Gießen findet man sie. Und bald in Heuchelheim.
Die Stolpersteine...
Erster Antrag von 2009. Im Juni 2009 hatte die evangelische
Kirchengemeinde in Heuchelheim und Kinzenbach gemeinsam mit der katholischen
Gemeinde Maria Frieden bei der Gemeinde einen Antrag gestellt, Stolpersteine
für die ehemaligen jüdischen Mitbürger zu verlegen, die während des Zweiten
Weltkrieges von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Doch rechnete man
zunächst nicht mit dem Widerstand der Anwohner. Viele hatten Vorbehalte, die
Steine direkt vor ihrer Haustür zu haben. Da nützte es wenig, dass der
damalige Bürgermeister Helmut Fricke gemeinsam mit Pfarrerin Cornelia Weber
mit den betroffenen Hauseigentümern sprach. Argumente, dass beispielsweise
ein Haus an Wert verlieren könne, oder man eventuell schief angesehen werde,
kamen auf. Sie zeigen, wie schwer es einigen heute noch fällt, mit der
düsteren Vergangenheit des Dritten Reiches umzugehen. Die Ängste sitzen tief
und kommen auch nach mehr als 71 Jahren noch hoch.
Im März 2015 wurde ein erneuter Anlauf unternommen, doch noch die
Stolpersteine in Heuchelheim zu verlegen. Zusammen mit der neu gegründeten
Stolperstein-Initiative Heuchelheim-Kinzenbach wurde der Antrag erweitert.
Nun sollten auch die aus dem Ort stammenden Opfer des
nationalsozialistischen Euthanasie-Programms miteinbezogen werden. Dank der
Initiative vieler, insbesondere auch der Grünen, entschloss sich die
Gemeinde im Juli für die Steine. 15 Menschen aus Heuchelheim und Kinzenbach
waren seitdem damit beschäftigt, Lebensdaten von Opfern zu recherchieren.
Sie haben in mühevoller Kleinarbeit Erinnerungen zusammen getragen, Spenden
gesammelt. Man musste viel argumentieren und so manches Mal einen langen
Atem beweisen. Anträge wurden formuliert und die Verlegung vorbereitet. Die
Vorarbeiten sind nun abgeschlossen. 'Es gab kaum Probleme', erzählt Günter
Kröck, der dem Team angehört. 'Pfarrerin Weber hat im Wesentlichen die
Recherchearbeit erledigt.' Das Ergebnis sind zwölf Stolpersteine. Drei
werden in der Bachstraße 23 an Ludwig, Irene und Herbert Schönberg erinnern,
drei in der Kinzenbacher Straße 3 an Sally, Jenny und Karl Süßkind, vier
Steine in der Gießener Straße 73 an Meier Irene, Hedwig und Paula Süßkind,
sowie einer in der Wilhelmstraße 37 an Franz Hofmann und der Hausnummer 43
an Irmgard Gernandt. Gunter Demnig wird sie am Samstag, 9. Juli, selbst
verlegen. Beginn ist um 9 Uhr in der Bachstraße 23. Mitglieder der
Initiative werden aus dem Leben der Menschen erzählen und Bilder zeigen.
Auch Musik ist vorgesehen.
Für viele haben die Stolpersteine eine große Bedeutung, geben sie doch einer
Zeit ein Gesicht, die in manchem Bewusstsein schon im Bereich der Märchen
und Sagen angesiedelt sei, meint Kröck. 'Ich halte die Aktion für wichtig,
weil sie dafür sorgt, dass das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät. Ich
kann meinen Enkel an die Hand nehmen, beim Gang durch den Ort mit ihm vor
den Steinen stehen bleiben und ihm vom Schicksal dieser Menschen erzählen,
die damals mitten unter uns lebten.'
'Brücken sein'. Pfarrerin Petra Schramm betont: 'Stolpersteine lehren
uns, vorsichtig und umsichtig auf unserem Weg zu gehen und nicht mit hartem
Schritt, der alles niedertritt, zu trampeln. Stolpersteine wollen nicht
lähmen und auch nicht aufwiegeln. Sie wollen Brücken sein zwischen
unversöhnlichen Menschen. Behutsam verlangsamen sie unseren Schritt, weisen
ihm eine neue Richtung. Sie sind kein Stein des Anstosses und Ärgernisses,
sondern dienen der Erinnerung daran, was Menschen einander antun können.'"
Link zum Artikel |
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November
2017: Weitere Verlegung von
"Stolpersteinen" in Gießen
Anmerkung: Es wurden Stolpersteine" verlegt für Familie Abraham in der
Neustadt 31 sowie für Helene Adler mit ihren Töchtern Margot und Hannelore in der Nordanlage;
weiter wurde in Erinnerung an Ferdinand Klein erstmals in Gießen auch ein Stolperstein für einen Angehörigen der Jenischen in der Mühlstraße
verlegt. |
Artikel in der "Gießener
Allgemeinen" vom 12. November 2017: "Zahl der Stolpersteine in Gießen wächst auf 154.
In Gießen erinnern bereits 146 Stolpersteine an 53 Verlegestellen an Opfer der NS-Zeit: Juden, T4-Opfer, Sinti, Opfer der NS-Justiz, überlebende Angehörige. Nun kommen acht weitere Stolpersteine an drei Verlegestellen dazu. Am Mittwoch, 15. November, werden diese Mahnsteine durch den Künstler Gunter Demnig verlegt. Treffpunkt ist vor der Albertuskirche in der Nordanlage um 9.45 Uhr.
Eine Besonderheit ist, dass es diesmal drei Vorschläge durch Nachfahren bzw. Angehörige der Opfer gab, die zum Teil auch an der Verlegung teilnehmen werden. Hildegard Abraham aus London möchte an die Familie ihres verstorbenen Mannes erinnern, die Opfer in drei Generationen zu beklagen hat. Marc Lefitz aus Kalifornien, dessen Mutter selbst als Kind durch einen Transport via Schweiz gerettet wurde, wünschte sich Stolpersteine für seine Großmutter und seine Tante. Ottilie Steller aus Gießen gedenkt an ihren Vater Ferdinand Klein. Die Familie ist den Jenischen zuzuordnen, erstmals gibt es nun in Gießen einen Stolperstein für diese Opfergruppe.
Jede Verlegung kostet Geld. Der Spendenstand sei zwar sehr erfreulich, sagt Sprecherin Monika Graulich, allerdings seien jederzeit Spenden willkommen. Ein Stolperstein kostet jeweils 120 Euro. Wer die nächste Verlegung (auch mit einem kleineren Betrag) unterstützen möchte, kann seine
Spende auf das Konto der Evangelischen Lukasgemeinde, Nr. 200 713 418 bei der Sparkasse Gießen (BLZ: 513 500 25) mit dem Verwendungszweck
'Projekt Stolpersteine' überweisen.
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zum Artikel
- Artikel von Katharina Ganz in
der "Alsfelder Allgemeinen" vom 16. November 2017: "STOLPERSTEINE VERLEGT.
Erinnerung und Mahnmal
Am Mittwoch sind acht neue Stolpersteine in Gießen verlegt worden. Erstmals haben Nachkommen der Opfer Vorschläge gemacht – Hildegard Abraham kam extra aus London.
Hildegard Abraham ist aus einem traurigen Grund nach Gießen gekommen. Die Familie ihres Mannes Henry wurde im Zweiten Weltkrieg vom nationalsozialistischen Regime aus der Stadt vertrieben. Der Cousin ihres Mannes, dessen Eltern und seine Großmutter wurden von den Nazis getötet. Um an sie zu erinnern, hat Abraham veranlasst, dass am Mittwoch vier Stolpersteine verlegt wurden. Dafür ist sie extra aus London angereist.
Vater wurde immer böse. 'Ich bin davon ganz begeistert', hält Abraham fest. Die Erinnerung wach zu halten liegt ihr am Herzen. Ihr Mann Henry war Sozialpsychologe und
'ihn trieb um, warum in Deutschland passieren konnte, was passiert ist', erzählt die Frau. Wenn sie und ihr Mann ihren Schwiegervater nach der Familie befragten, sei er immer böse geworden. Er wollte nicht darüber reden.
'Später sah ich in Berlin einen Stolperstein für meine Schwiegermutter und fand es schade, dass es so etwas für die Abrahams nicht gibt', erklärt die Seniorin. Dann fing sie an zu recherchieren. Der Internationale Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen verwies sie an mehrere Stellen, ehe sie beim Landeswohlfahrtsverband Hessen fündig wurde.
Geschichten verlesen. In der Neustadt 31 hat sich eine Gruppe Menschen um die von Künstler Gunter Demnig verlegten Steine versammelt, um die Geschichten der Familienmitglieder zu hören. Ursula Schroeter von der Koordinierungsgruppe Stolpersteine Gießen verliest die Ergebnisse der Recherchen: Ein Stolperstein wurde für die am 19. Januar 1862 geborene Fanny Abraham (geb. Ochs) gelegt. Sie zog 1913 von Ehringshausen nach Gießen. Zuerst wohnte sie in der Steinstraße, später zog sie zu ihrem ältesten Sohn in der Neustadt 61 (heute Neustadt 31). Mit ihrem wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Mann, Süßmann Abraham, hatte sie drei Söhne: Adolf, Karl und Siegfried. Ab dem 20. Februar 1939 war Fanny in Bad Nauheim gemeldet. Von dort wurde sie am 27. September 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Sie starb am 16. Januar 1943, drei Tage vor ihrem 81. Geburtstag.
Seit dem 18. Jahrhundert ansässig. Ein zweiter Stein wurde für Adolf gelegt. Der Onkel des Ehemannes von Hildegard Abraham war Soldat im Ersten Weltkrieg. Aufgrund einer Kriegsverletzung litt er an Epilepsie. Im August 1920 heiratete er die Wieseckerin Clementine Meyer, die mütterlicherseits aus der großen Familie Stern stammte, die in Gießen seit Ende des 18. Jahrhunderts ansässig war. Gemeinsam führten Adolf und Clementine ein Geschäft im Erdgeschoss ihres Hauses in der Neustadt. Am 26. September 1921 kam der einzige Sohn Siegbert zur Welt. Auch für ihn und seine Mutter legte Künstler Demnig am Mittwoch einen Stolperstein. Im Oktober 1938 mussten die Abrahams ihr Geschäft auf nationalsozialistischen Druck hin aufgeben und das Haus verlassen. Sie wurden – wie viele andere Juden – in ein ehemaliges Altersheim in der Walltorstraße 48 eingewiesen.
Zwei Brüder konnten fliehen. Adolfs Hirnverletzung war ein Grund für die Nazis, ihn am 16. März 1940 in das
'Hospital Goddelau' einzuweisen. Die psychiatrische Klinik leitete ihn in die Tötungsanstalt Hadamar weiter, in der er am 4. Februar 1941 ermordet wurde. Seine Frau Clementine und Sohn Siegbert wurden am 16. September 1942 über Darmstadt nach Polen deportiert. Ihre Todesdaten sind nicht bekannt. Adolfs Brüder Karl und Siegfried konnten fliehen. Hildegard Abraham, die Siegfrieds Sohn später heiratete, legte für jedes Opfer eine Rose ab und zündete eine Kerze an."
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zum Artikel
Vgl. Artikel im "Gießener Anzeiger" vom 14. November 2017:
"Erstmals 'Stolperstein' in Gießen für Jenischen..."
Link
zum Artikel |
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Mai 2019:
Schülerinnen und Schüler
übernehmen Putzpatenschaften für "Stolpersteine"
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Artikel von Felix Pflüger in "mittelhessen.de"
vom 26. Mai 2019: "Francke-Schüler übernehmen Patenschaft für
Stolpersteine in Gießen
Mit Politur und Putzlappen rücken Neuntklässler der
August-Hermann-Francke-Schule dem Vergessen zu Leibe: Sie haben - wie andere
Schulen auch - Patenschaften zur Pflege der "Stolpersteine" übernommen.
GIESSEN - Stolpersteine sind wohl die präsenteste Erinnerung an die
schrecklichen Verbrechen der NS-Zeit in Deutschland. Die pflastersteingroßen
Messingkunstwerke des Künstlers Gunter Demnig rufen in vielen deutschen
Innenstädten 'auf Schritt und Tritt' die Schicksale von im Dritten Reich
deportierten Menschen ins Gedächtnis - auch in Gießen insgesamt über 150
Mal. Hier hatte die Stolperstein-Koordinierungsgruppe nun eine gute Idee,
wie man die Mahnmale immer in Glanz halten kann. 'Durch Patenschaften
verpflichten sich Schüler und junge Leute zur Pflege und alljährlichen
Reinigung der Steine', so Angelika Nailor, Geschäftsführerin des Vereins
'Ehrenamt Gießen'. Sie stellte den Kontakt zwischen Pfarrer Klaus Weißgerber
aus der Koordinierungsgruppe und mehreren Schulen und Gemeinden her, unter
anderem mit der August-Hermann-Francke-Schule. Deren Schüler der Klasse 9a
kamen das erste Mal in einer Vertretungsstunde mit der Idee in Kontakt, eine
Patenschaft zu übernehmen. 'Viele in der Klasse haben über den Vorschlag
gelacht und sich über die Verbrechen der Nazi-Zeit lustig gemacht. Das hat
mich angespornt, mitzumachen', so Julia Horn. Sie ist eine von fünf
Schülerinnen und Schülern, die zum ersten Arbeitseinsatz in der
Stephanstraße 28 mit Putzlappen und Politur ausgerückt sind. Dort liegen
sieben Stolpersteine für Familie Jakob, die in diesem Wohnhaus ihren letzten
bekannten freiwilligen Wohnsitz hatte. Erwähnt ist auf den Steinen der Name
der deportierten Person, sowie ihr Geburts- und Sterbedatum, soweit dieses
bekannt ist. Vermerkt ist außerdem das Ziel der Deportation. Im
Geschichtsunterricht gelang es den insgesamt 20 Paten im Voraus Teile der
Schicksale zu rekonstruieren und sie während der ersten Reinigungsaktion
gemeinsam mit Stufenleiter Stefan Ulbrich zu präsentieren. 'Zwei der
Familienmitglieder konnten fliehen, die anderen fünf wurden im
Vernichtungslager Treblinka ermordet', weiß Joy-Lina Schneider zu berichten.
Über das Lager, über die Stolpersteinaktion an sich, sowie über die
einzelnen Schicksale der Familienmitglieder fertigten die Schüler gemeinsam
ein Plakat an, das zukünftig auch in der Schule ausgehängt wird. 'Ich war
bereits mit einem Freund im KZ Buchenwald und habe gesehen, wie es wirklich
war. So können wir auch noch andere Leute über die Gräueltaten informieren',
meint Pate Renatus Quiring. Er und seine Klassenkameraden würden nun, bis
sie die Schule verlassen, einmal jährlich die ihnen zugeteilten Steine
reinigen. 'Das ist eine gute Gelegenheit, sich zu engagieren und ein Zeichen
zu setzen', findet Dunja Kreienhop. Dem schließt sich auch ihre Mitschülerin
Jessye Matejec an: 'Die Steine sind so klein, und doch hat es so eine große
Bedeutung, sie zu pflegen.'
Seit 2008 managt die Koordinierungsgruppe Stolpersteine die Verlegung und
Finanzierung in der Stadt. 'Wir übernehmen den Kontakt mit Herrn Demnig
sowie die Recherche der einzelnen Schicksale. Die Stadt unterstützt uns mit
den tiefbaulichen Arbeiten', so Stadträtin und Gruppenmitglied Monika
Graulich. In den nächsten Jahren würden wieder über 15 Verlegungen anstehen,
die Finanzierung von 120 Euro pro Stein müsse allerdings erst durch Spenden
gesichert werden. 'Wir freuen uns über jeden noch so kleinen Beitrag gegen
das Vergessen', ergänzt Weißgerber. Die Spendenadresse findet man auf der
Homepage der Koordinierungsgruppe
www.stolpersteine-giessen.de."
Link zum Artikel
Vgl. Artikel von Karen Werner in der "Gießener Allgemeinen" vom 24. Mai
2019: "Gedenken an NS-Opfer wachhalten. Gießener Jugendliche übernehmen
Patenschaften für die 'Stolpersteine'."
Link zum Artikel https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/gedenken-ns-opfer-wachhalten-12314883.html
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August 2019:
Fortbildung für pädagogische
Kräfte der August-Hermann-Francke-Schule zu den "Stolpersteinen" in Gießen
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Artikel in der "Gießener
Zeitung" vom 19. August 2019: "Francke-Lehrer auf der Spur verfolgter
Mitbürger - Fortbildung zu Stolpersteinen im Gießener Stadtbereich
Gießen. Vor dem ehemaligen Fröbelseminar war die erste Station von
Lehrkräften der August-Hermann-Francke-Schule, die sich über Stolpersteine
in Gießen informieren wollten. Da, wo die Pädagogin Hedwig Burgheim gewohnt
und gelehrt hatte, begann für ein Dutzend Lehrerinnen und Lehrer die
Exkursion im Gießener Stadtbereich. In Monika Graulich hatte die Gruppe eine
kundige Referentin für ihre Fortbildung gefunden, denn die Stadträtin ist
seit Jahren aktiv im Verein 'Gegen Vergessen – für Demokratie' und in der
örtlichen Stolperstein-Koordinierungsgruppe. An ausgewählten Orten
berichtete Graulich nicht nur über Umstände der Verlegung von Stolpersteinen
und den Künstler Gunter Demnig, welcher die Gedenkplatten aus Messing
gestaltet, sondern auch über die Biografie einer jeden Person, an die
erinnert werden soll. Darunter waren jüdische Einzelpersonen und Familien
sowie ein Opfer der Aktion T4 (Ermordung von Psychiatrie-Patienten).
Für die Francke-Lehrer war der Termin sowohl eine Ergänzung zu sonstigen
Fortbildungen für die Schulfächer Geschichte oder Religion als auch ein
besonderes Anliegen: Die Schule hatte im Mai eine Patenschaft für
Stolpersteine übernommen und bei einem ersten Putztermin hatten sich
Jugendliche der Klasse 9a darum gekümmert, dass in bestimmten Straßenzügen
die dort verlegten Messingplatten vor dem Verdunkeln bewahrt werden und
weiterhin gut sichtbar bleiben. Die Spurensuche der Lehrkräfte vor Ort
diente auch dazu, dass im Unterricht dieser lokale Bezug zu einem insgesamt
wichtigen Thema kompetent vermittelt werden kann."
Link zum Artikel |
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August 2019:
Besuch von Nachkommen der Familie
Süßkind in
Heuchelheim - Suche nach jüdischen Erinnerungsgegenständen für das Museum
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Artikel von Rüdiger Soßdorf im "Gießener
Anzeiger" vom 12. August 2019: "Stolpersteine sind keine Schlusssteine
Heuchelheim (so). Nicht rückwärtsgewandt, sondern mit Blick nach vorn
wolle man einander begegnen. Das versprachen sich Mitglieder der Familie
Süßkind und Heuchelheimer Bürger bei ihren ersten Begegnungen vor drei
Jahren. Ganz so, wie es Dr. Karl Süßkind und sein Freund, der frühere
Heuchelheimer Bürgermeister Otto Bepler, für die Nachfahren gewünscht
hatten. Die Zusage trägt: Im Juli weilten Gidon und Nava Süßkind aus Herzlia/Israel
einmal mehr am unteren Bieberbach. Mit ihnen waren rund 20 weitere
Angehörige der Familie nach Deutschland gekommen. Kinder und Enkel sind
dabei, die Urenkel von Karl Süßkind, der mit seiner Frau Traudel vor bald 80
Jahren auf der Flucht vor den Nazis seine Heuchelheimer Heimat gen Israel
verließ. Gerade die Begegnungen dieser Nachgeborenen mit Gleichaltrigen
macht Mut, lässt optimistisch nach vorn blicken.
Weiterer Anlass der neuerlichen Deutschland-Visite: Das Verlegen von
Stolpersteinen durch den Künstler Gunter Demnig in
Bebra, der Heimatstadt von Karl Süßkinds
Frau. Da wurde noch einmal thematisiert, was man einander bereits in
Heuchelheim versprach, als im Juni 2016 Stolpersteine für Süßkinds verlegt
wurden: "Stolpersteine sind keine Schlusssteine." Ganz im Gegenteil sollen
sie Denk-Prozesse anstoßen. Zudem wird ein weiterer Ansatz verfolgt, um
Diskussionen anzuregen: Im Heuchelheimer Heimatmuseum im einstigen
Kinzenbacher Bahnhof sollen Spuren einstigen jüdischen Lebens in Heuchelheim
dokumentiert werden. Das haben Gidon Süßkind und Gerhard Kreiling, der
Vorsitzende des Arbeitskreises Heimatmuseum im Kulturring, verabredet.
Gesucht werden nicht nur Dokumente und Fotos, sondern darüber hinaus weitere
Gegenstände, die an die Heuchelheimer jüdischen Glaubens erinnern. Jüdisches
Leben gehört für mehr als 200 Jahre zur Heuchelheimer Geschichte, sagt
Gerhard Kreiling. Wie hilfreich diese Arbeit sein kann, um Diskussionen
anzustoßen und eine Kultur der Auseinandersetzung zu bereichern, die sich
aus der Vergangenheit speist, aber bis heute ungebrochen aktuell ist, das
hat sich anderorts durchaus gezeigt: So ist Kreiling im Austausch mit Dr.
Heinrich Nuhn aus Rotenburg/Fulda. Nuhn hat dort eine solche Arbeit bereits
geleistet. Wer zur geplanten Sammlung in Heuchelheim etwas beisteuern kann,
ist gebeten, sich an Gerhard Kreiling zu wenden:
heimatmuseum@gakreiling.de."
Link zum Artikel |
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Februar/Mai 2020:
Stolpersteine sind online
einsehbar - im Mai wird der 155. Stolperstein in Gießen verlegt
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Artikel von "paz" im "Gießener Anzeiger"
vom 8. Februar 2020: "Stolpersteine online 'besuchen'.
GIESSEN - Stolpersteine sind kleine, quadratische, in den Gehweg
eingelassene Gedenktafeln aus Messing. Sie erinnern an das Schicksal von
Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, deportiert oder
ermordet wurden. 154 von insgesamt 75 000 Steinen sind seit 2008 von dem
Künstler Gunter Demnig im Gießener Stadtgebiet verlegt worden. Darauf ist
jedoch nur Platz für den Namen der Personen, ihre Lebensdaten und ihren
Deportationsort. Wer mehr über das Leben der Holocaustopfer erfahren möchte,
braucht ab sofort nur auf die Internetseite der Stadt zu schauen. Unter
www.giessen.de stößt man unter der
Rubrik 'Erleben' sofort auf die Seite der Koordinierungsgruppe
Stolpersteine. Alternativ kann auch der Suchbegriff 'Stolpersteine'
eingegeben werden. Eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis die Version online
gehen konnte. Während Jens Haub von der Internetredaktion der Stadt sich um
die technische Abwicklung gekümmert hat, haben Christel Buseck, Ursula
Schroeter, Monika Graulich und Pfarrer Klaus Weißgerber in 'wertvoller, aber
mühseliger Arbeit' Informationen zusammengetragen. Dabei wurden alle
Opfergruppen berücksichtigt. Geordnet sind die Steine nach dem letzten frei
gewählten Wohnsitz. Gibt man beispielsweise 'A' ein, erhält man Infos über
die Stolpersteine in der Alicenstraße, im Alten Wetzlarer Weg oder Am
Backhaus. 56 Straßen mit Stolpersteinen sind bisher im Raum Gießen zu
finden. Eine freie Suche ermöglicht die Recherche nach Familiennamen wie
Rosenthal oder Herz. Nicht alle Texte sind gleich lang, erklärt Monika
Graulich. 'Über einige Familien hat man eben mehr Informationen aufgespürt
als über andere.' Paten und Zeitungen stellten Fotos der Verstorbenen zur
Verfügung. Die bestehende Seite 'Stolpersteine Kreis Gießen' soll
abgeschaltet werden. Die dort bereits vorhandenen Informationen wurden
nochmals gesichtet, erweitert und aufbereitet. 'Die Seite war in der
Vergangenheit nicht kontinuierlich gepflegt worden. Wir sind dankbar, dass
die Stadt Gießen sich jetzt um alles kümmert', freut sich Klaus Weißgerber.
'Mit unseren ehrenamtlichen Recherchen werden wir fortfahren', ergänzt
Christel Buseck. Transportlisten der Züge würden in der Regel Auskunft über
die Deportationsorte jüdischer Bürger geben, Ausnahme sind die Züge nach
Treblinka. Hier laute dann der Eintrag 'ermordet im besetzten Polen'.
Schwieriger sei es beispielsweise, die Spuren von Sinti und Roma zu
verfolgen. 'Da sind wir oftmals auf die Hilfe von Angehörigen angewiesen.'
Auch eine genaue Hausnummer zuzuordnen, gestalte sich in manchen Fällen
schwierig. Vor allem wenn es diese Nummer nicht mehr gibt. Auch in einem
digitalen Stadtplan lässt sich nach den Stolpersteinen suchen. Alle Inhalte
passen sich auch an Mobiltelefone an. Finanziert werden die Stolpersteine
ausschließlich über Patenschaften und Spenden. 'Wir gehen dabei gerne auf
die Wünsche von Angehörigen ein', betont Ursula Schroeter. So auch im Fall
von Ferdinand Klein aus der Mühlstraße, der Sachsenhausen und Auschwitz
überlebte.
Ein Stein kostet 120 Euro - Vorbereitungsarbeiten, Herstellung und Verlegung
inklusive. Der 155. Stolperstein in Gießen wird am 4. Mai gesetzt.
Das Spendenkonto lautet: Evangelische Lukasgemeinde, Sparkasse
Gießen, IBAN: DE53 5135 0025 0200 7134 18, BIC: SKGIDE5F, Verwendungszweck:
'Projekt Stolpersteine'"
Link zum Artikel
vgl. Beitrag von Burkhard Möller in der "Gießener Allgemeinen" vom 10.
Februar 2020: "Digitales Gedenkbuch für "Stolperstein"-Opfer
Die Geschichte der bislang 154 Gießener "Stolperstein"-Opfer findet sich nun
auf der Stadt-Homepage. Herausgekommen ist ein bewegendes Stück
Stadtgeschichte..."
Link zum Artikel |
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Februar 2023:
Reste der Synagoge bei
Ausgrabungen in der Südanlage entdeckt |
Artikel von Ingo Berghöfer im "Gießener
Anzeiger" vom 18. Februar 2023: "Synagogen-Reste entdeckt.
Ungewöhnlich gut erhaltene Überreste der in der Reichspogromnacht
angezündeten neuen Synagoge wurden jetzt bei Ausgrabungsarbeiten vor der
Kongresshalle entdeckt.
Gießen. 'Als am Morgen des 10. November die Frau des Synagogendieners im
Heizungsraum der neuen Synagoge in der Südanlage 2 (die damals noch
Hindenburgwall hieß) Licht machte, um die Öfen zu kontrollieren, hörte sie
ein Klopfen an der Haustür.' So beginnt eine Schilderung von der Zerstörung
der größten Gießener Synagoge, die Platz für 500 Besucher bot, in der
Pogromnacht des Jahres 1938. Damals wurde das Gebäude verwüstet und in Brand
gesteckt, die Ruine anschließend geplündert und schließlich gesprengt. Von
der Synagoge sei kein Stein mehr übrig, meldete die Gießener NS-Führung
nicht ohne Stolz in die Gauhauptstadt und log dabei einmal mehr.
Verdrängte Geschichte unterm Asphalt. Fast 85 Jahre später hat sich
eine Handbreit unter dem Asphalt unverhofft ein Fenster in das düsterste
Kapitel unserer Geschichte geöffnet und man kann erstmals seit dem Tag, an
dem in Gießen die Diskriminierung der Deutschen jüdischen Glaubens in offene
Verfolgung und Entrechtung umschlug, wieder in diesen Heizungskeller
schauen. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher, Stadträtin Astrid Eibelshäuser,
der Bodenarchäologe der Stadt Gießen, Björn Keiner, und Dr. Sandra Sosnowski
vom Landesamt für Denkmalpflege präsentierten am Freitag die unerwarteten
Entdeckungen einer Notausgrabung. 'Für einen historischen Moment kann man
sich der eigenen Geschichte und jener der Stadt an einem zentralen Ort
stellen', sagte Becher.
Vor dem Hintergrund der Erweiterung des Kongresshallenfoyers war bereits mit
Funden gerechnet worden, da der Standort der Synagoge, die im 90-Grad-Winkel
zur heutigen Kongresshalle vis-à-vis dem Stadttheater gestanden hatte, gut
dokumentiert ist. Womit allerdings niemand gerechnet hat, ist der
außerordentlich gute Zustand der Synagogen-Reste. Teilweise bis in Brusthöhe
sind die Kellerräume des Gebäudes erhalten. Dort, wo früher der Kiosk der
Touristen-Information angesiedelt war, ist noch die alte Kohlenrutsche zu
sehen, über welche die 1925 eingebaute Zentralheizung versorgt worden war.
Die Ausgrabung hat den mittleren Bereich der Synagoge freigelegt. Auch die
anderen beiden Teile des Kellers Richtung Südanlage und unter der
Kongresshalle dürften also noch erhalten sein, da die Kongresshalle nicht
unterkellert ist. Die binnen sechs Wochen unter teils widrigen
Wetterbedingungen mit Dauerregen und Temperaturen von bis zu minus zehn Grad
freigelegten Räume befanden sich in der Mitte des 1867 errichteten und 1892
erweiterten Gotteshauses. Sorgsam behauene Sandsteinquader markieren den
Übergang vom Altbau zum Anbau. Auffälligster Fund ist ein großer achteckiger
Stein mit einer quadratischen Öffnung, der wahrscheinlich beim Brand des
Gebäudes durch die Decke gebrochen und in den Keller gestürzt ist. Dow Aviv
von der Jüdischen Gemeinde hat ihn als Fuß eines Chanukka-Leuchters, des
ewigen Lichts, identifiziert. Aviv hatte bereits am Vorabend als Erster die
Ausgrabung besichtigen können. Ein Moment, der viele Emotionen in ihm
ausgelöst habe, und in dem viele Erinnerungen an seine eigenen, in der Shoah
umgekommenen Angehörigen auf ihn einstürmten, sagte er im Gespräch mit dem
Anzeiger. 'Das war ein Augenblick, der mir klar gemacht hat, wie wichtig
eine lebendige Erinnerungskultur für uns ist.' Aviv kündigte an, dass die
Jüdische Gemeinde einen Gedenkgottesdienst an der Ausgrabungsstelle abhalten
werde. Wie mit den neuen Funden umgegangen wird, ist derzeit noch offen,
auch wenn sie bereits Auswirkungen haben. Eine ursprünglich unter der
künftigen Terrasse des erweiterten Kongresshallen-Foyers geplante, 18
Kubikmeter fassende Zisterne ist inzwischen verlegt worden. Über das weitere
Vorgehen werde der Magistrat in Rücksprache mit dem Denkmalschutz
entscheiden. Eine Glasplatte im neuen Anbau, der einen Blick in die
Vergangenheit ermöglichen würde, ist nach Ansicht von
Landesdenkmalschützerin Sosnowski 'nicht das Mittel der Wahl'. Astrid
Eibelshäuser gibt zu bedenken, dass auch die Kongresshalle unter
Denkmalschutz stehe. 'Das muss man in ein sinnvolles Verhältnis bringen und
deshalb kann man heute noch keine abschließenden Aussagen treffen.' Vieles
ist denkbar; von der 3D-Rekonstruktion des Gebäudes in einer 'Virtual
Reality'-Umgebung bis zu einer 'Augmented Reality'-Version der Ruinen, die
man vor Ort per Smartphone anschauen könnte. Ob die Integration der
Kellerräume, etwa als Gedenkstätte, in die Kongresshalle möglich wäre, ist
nicht nur eine Frage der Kosten, sondern auch der Statik. 'Ob die
Gebäudeteile aufgestockt werden könnten, müsste erst einmal geklärt werden',
sagt Sosnowski. Aus archäologischer Sicht sei auch das Zuschütten der
Kellerräume eine Option, da dies die Überreste am besten für nachfolgende
Generationen und für eventuelle spätere Ausgrabungen konserviere. Zumal der
Fund jetzt mit 3D-Technik vermessen und bestens dokumentiert sei.
Verbrannte Gebetsbücher im Bauschutt. Im Bauschutt, mit dem die
Keller nach der Sprengung verfüllt wurden, hat das polnische Ausgrabungsteam
nicht nur von der großen Hitze des Brandes deformierte Nägel, Schrauben,
eiserne Türbeschläge und Lampenschirme entdeckt, die teilweise in den
Steinboden eingeschmolzen sind, sondern auch stark angesengte Überreste von
Gebetsbüchern. Auf einem briefmarkengroßen Schnipsel kann man noch das
hebräische Wort für 'Schabbat' entziffern. Entdeckt wurden bei den
Ausgrabungen auch die Überreste eines längst vergessenen Nachkriegsbaus.
Direkt auf den Synagogenfundamenten und damit deren Stabilität ausnutzend,
wurde - Ursache und Wirkung - eine Notbaracke für Ausgebombte errichtet.
Auch beim Bau der Kongresshalle Anfang der 1960er muss man übrigens auf die
Überreste einer finsteren Vergangenheit gestoßen sein. So sind damals Teile
einer Kellerwand entfernt worden, um eine Wasserleitung für die Halle zu
verlegen. Groß thematisiert wurde das in den Wirtschaftswunderjahren
offenbar nicht. Seinerzeit seien auch Planungs- und Genehmigungsverfahren
sehr viel kürzer gewesen als heute, und es gab auch noch keinen
Denkmalschutz, ergänzte Astrid Eibelshäuser. Dass die Öffentlichkeit erst
jetzt über den Fund informiert wurde, erklärt der Stadtarchäologe mit der
Furcht vor Beschädigungen durch Raubgräber und Andenkensammler. 'Es gibt da
nichts zu holen, schon gar keine Schätze', betont Björn Keiner. Auch sei es
sicher nicht die beste Idee, in ein von zwei Bauzäunen und mit Kameras
gesichertes Areal einzudringen, das nur wenige Meter vom Polizeipräsidium
entfernt liegt."
Link zum Artikel |
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Mai 2024:
Weitere Stolpersteine werden in
Gießen verlegt |
Artikel von Jens Riedel in der "Gießener
Allgemeinen" vom 16. Mai 2024: "Mahnmale gegen Antisemitismus.
Sie erinnern an Gießener, die im Nationalsozialismus deportiert, ermordet
oder in den Selbstmord getrieben wurden: Sechs weitere Stolpersteine mit
eingravierten Namen von Opfern sind am Donnerstag in der Ostanlage, in der
Ludwigstraße und in der Löberstraße verlegt worden.
Paula Bella Heichelheim, Isaak Sonn, Babette Sonn, Martha Asch, Louis
Mendelssohn, Jenny Mendelsohn: Am Donnerstag hat ein städtischer Mitarbeiter
zusammen mit Schülerinnen und Schülern der Klasse 10c der Liebigschule in
Gießen sechs weitere Stolpersteine für jüdische Bürgerinnen und Bürger
verlegt. Mit den Steinen wird die Erinnerung an die Vernichtung von Juden,
Sinti und Roma, politisch Verfolgten und Euthanasieopfern im
Nationalsozialismus lebendig gehalten. Seit April 2008 wurden in Gießen und
den Stadtteilen rund 200 Stolpersteine, in die Namen auf einer Messingplatte
eingraviert sind, an Stellen einbetoniert, wo die Opfer des NS-Regimes ihren
letzten frei gewählten Wohnsitz hatten. Der Künstler Gunter Demnig, der die
Idee zu den Steinen hatte, war diesmal nicht bei der Verlegung dabei.
'Hinter jedem Stein steht ein Leben, eine Geschichte. Die Steine sind
Mahnmale gegen den Antisemitismus, der wieder stärker wird in diesem Land.
Geschichte bewusst zu machen, ist deshalb sehr wichtig', sagte
Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher, der an der Verlegung der Mahnsteine
ebenso teilnahm wie Pfarrer Gabriel Brand, Christel Buseck, Ursula Schröter
und Monika Graulich. Diese vier Personen gehören der 'Koordinierungsgruppe
Stolpersteine Gießen' an, die die Liste der Opfer zusammenträgt und die
Steineverlegung vorbereitet.
Zu den Menschen, denen die neu verlegten Steine gewidmet sind, zählt Paula
Bella Heichelheim (Jahrgang 1879), geborene Simonsfeld. Sie war mit dem
Mitbegründer des Bankhauses Gebr. Heichelheim, Albert Heichelheim,
verheiratet. 'Das Ehepaar wohnte im Haus der Bank in der Johannesstraße 17
in Gießen', erzählte Liebigschülerin Helene Knocke. Albert Heichelheim war
später Teilhaber bei seinem Onkel Siegmund Heichelheim (nach dem in Gießen
eine Straße benannt ist) im Bankhaus Aron Heichelheim in Gießen. Albert
Heichelheim starb 1919 im 51. Lebensjahr. Paula Bella wohnte ab August 1938
in der Ostanlage 49 - wo sich heute das Großkino befindet - und wurde am 16.
September 1942 aus dem Ghettohaus in der Landgrafenstraße 8 in das besetzte
Polen deportiert. Dort wurde sie ermordet. Ihr Stolperstein liegt nun ebenso
in der Ostanlage wie die Steine für Isaak und Babette Sonn, geborene Hertz.
Gedemütigt und entrechtet. Isaak Sonn (Jahrgang 1876) war Inhaber
eines Farb- und Materialwarenhandels, den er zum Mineralölhandel ausbaute.
Er floh - wie Schüler Anton Reuter berichtete - aufgrund von Demütigung und
Entrechtung am 27. Dezember 1938 vor den Nationalsozialisten nach Luxemburg,
wo er sein Leben am 19. September 1940 durch Selbstmord beendete. Seine Frau
Babette (Jahrgang 1888) blieb nach der Flucht ihres Mannes zunächst in
Gießen und wurde 1941 in das Ghettohaus in der Walltorstraße 42 gebracht. Im
September 1942 brachten die Nazis sie ins besetzte Polen und ermordeten sie.
'Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt', sagte Schüler Emil Alban.
Weitere Stolpersteine wurden für Martha Asch (geborene Oppenheimer) in der
Ludwigstraße 14 sowie für Louis und Jenny Mendelsohn (geborene Nussbaum) in
der Löberstraße 26 in den Boden eingelassen. Die Stolpersteine werden durch
Spenden finanziert. Junge Menschen aus der Jungen Kirche in Gießen werden
die Steine als Paten künftig regelmäßig reinigen."
Link zum Artikel |
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April 2024:
Vortrag zur Geschichte der
Synagoge in Gießen |
Artikel von Burkhard Möller in
der "Gießener Allgemeinen" vom 18. April 2024: "Gießen - Vergesslichkeit,
die 'erschüttert'
Aus der Mitte der Stadtgesellschaft in den Abgrund des völkischen
Antisemitismus: Nur 71 Jahre stand an der heutigen Südanlage die große,
repräsentative Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde. Ein Vortrag im
Oberhessischen Geschichtsverein macht klar, dass die Verbrechen der Nazis
und die jüdische Stadtgeschichte nach 1945 noch lange verdrängt und
vergessen wurden. Es ist gut ein Jahr her, da drängten sich Hunderte
Gießener in der Südanlage um eine Baugrube an der Kongresshalle. Bei
Besichtigungen wollen sie einen Blick auf die Reste der am 10. November 1938
beim Judenpogrom niedergebrannten Synagoge werfen, die bei
Ausschachtungsarbeiten für eine Zisterne überraschend aufgetaucht sind.
Dagegen könnte man mit Blick auf das Foto aus der Gießener Allgemeinen vom
8. März 1966, das Henriette Stuchey bei ihrem Vortrag 'Von frevlerischen
Händen zerstört' am Mittwochabend beim Oberhessischen Geschichtsverein (OGV)
zeigt, von einem eher kleinen Kreis sprechen. Er hat sich an einer
Bronzeplatte an der Südanlage versammelt, die waagerecht am Boden liegt.
Nicht nur bei der Referentin drängt sich angesichts des Bilds und des
Termins der Eindruck auf, dass die Gießener Stadtgesellschaft vor 58 Jahren
noch schnell etwas loswerden will - am Abend vor der Eröffnung der
Kongresshalle. Es ist die Scham über die Verbrechen der Nazi-Zeit und die
Verdrängung jüdischen Lebens und jüdischer Stadtgeschichte, die nicht nur in
Gießen bis in die 1960er Jahre anhält. Rund 45 Minuten spricht die
Kunsthistorikerin, Restauratorin und Autorin, die für die Untere
Denkmalschutzbehörde der Stadt arbeitet, im Anschluss an die
Jahreshauptversammlung des OGV über die 'Bau- und Erinnerungsgeschichte der
Synagoge an der Südanlage'. Es geht um den Zeitraum von 1867, als das
repräsentative Gotteshaus der liberalen israelitischen Gemeinde Gießen
eröffnet wird, bis 1966, als die Kongresshalle an der Südanlage als
Kernstadt-Bürgerhaus fertiggestellt ist. Die Kupferrolle, die im Juli 1962
in den Grundstein der Kongresshalle eingemauert wird, enthält eine Urkunde,
auf der geschrieben steht, dass die Synagoge im November 1938 von
'frevlerischen Händen' zerstört worden sei. Vor allem, als Stuchtey über die
Nachkriegszeit, über den hartleibigen Umgang von Stadt und Land mit
Entschädigungsforderungen der Jewish Restitution Succesor Organization (JRSO)
für die Zerstörung von Gebäuden und Inventar sowie die Beschlagnahme von
Grundstücken spricht, über die Neugestaltung des Berliner Platzes und den
Bau der Kongresshalle sowie über das Ringen um einen Gedenkort an der
Südanlage hört man im Publikum im Netanyasaal des Alten Schlosses
ungläubiges Murmeln und Raunen. So habe die Stadt Gießen erst 1955 - 'nach
sechs Jahren Verhandlungen' - zugestimmt, einer Treuhandstelle des Landes
Hessen 42 000 Mark für das Synagogen-Grundstück und des dahinterliegenden,
von der Nazi-Stadtregierung enteigneten jüdischen Gemeindehauses zu zahlen.
'Das war in etwa die Hälfte der Forderung des JRSO', sagt Stuchtey.
Kurzzeitig befindet sich in dem ehemaligen Gemeindehaus nach dem Krieg die
jüdische Betreuungsstelle, dessen Leiter Ludwig Stern das Leben vom
Sozialamt schwer gemacht worden sei. Ein Sachbearbeiter habe 'keinerlei
Mitgefühl' gezeigt, immer wieder sei es zu Streitigkeiten über Porto- und
Telefonkosten gekommen, die die Stadt hätte tragen müssen, berichtet
Stuchtey.
Bauamt leugnet Judenpogrom. Als das Land im Zuge der Verhandlungen
über Entschädigungsforderungen für Inventar die Kommunen 1960 abfragt,
inwieweit jüdische Einrichtungen durch den Krieg zerstört bzw. beschädigt
worden seien, habe das Stadtbauamt die Vorkriegszerstörung beim Pogrom 1938
praktisch geleugnet und über 'erhebliche Kriegsschäden' an der Synagoge
berichtet. Es seien vor allem der Gießener Emigrant Josef Brumlik und eine
jüdische Studentengruppe gewesen, die sich vor 1966 dafür eingesetzt hätten,
dass an der Kongresshalle ein Gedenkort für die zerstörte Synagoge entsteht.
Der Auftrag für die Bronzeplatte, die später aufgerichtet und dadurch
sichtbarer wird, habe der bekannte Bildhauer Carl Bourcarde erhalten. Er war
NSDAP-Mitglied und schuf während der Nazi-Zeit martialische Werke wie das
Soldatenrelief an der Außenmauer der Bergkaserne. Aus heutiger Sicht hätte
dies Bourcarde für den Auftrag 'disqualifiziert', aber es seien wohl
'persönliche Beziehungen' im Spiel gewesen, vermutet Stuchtey. In den
Bauakten zur Kongresshalle habe sie keinen einzigen Hinweis auf die
Kellerreste der Synagoge gefunden, obwohl sie freigelegt gewesen sein
müssen, denn es seien Kabel durch die Mauern gezogen worden.
OGV-Vorsitzender Dr. Michael Breitbach zeigt sich bei seinen Dankesworten an
die Referentin 'erschüttert' über den jahrzehntelangen Umgang mit der
eigenen Geschichte. Stuchteys Rechercheergebnisse würde der Vorsitzende
gerne als Beitrag in einer der nächsten jährlichen Mitteilungen des
Geschichtsvereins sehen."
Link zum Artikel |
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Mai 2024:
Verlegung von zwei
Stolpersteinen |
Artikel im "Gießener Anzeiger"
vom 1. Juni 2024: "Nachfahren nehmen an Stolpersteinverlegung in Gießen
teil.
Gießen hat zwei neue Gedenksteine für Opfer des Nationalsozialismus. Als
Besonderheit waren diesmal internationale Gäste bei der Verlegung zugegen.
Gießen. Eine Stolpersteinverlegung ist immer ein andächtiges Ereignis.
Wenn die Messingblöcke nach der Idee des Aktionskünstlers Gunter Demnig vor
dem letzten frei gewählten Wohnort von Opfern des Nationalsozialismus in den
Gehweg eingelassen werden und damit Namen und Schicksal der Verstorbenen im
Stadtbild verewigen, ist das stets ein erhebender Moment. Trotzdem dürfte
die zweite Gießener Verlegung innerhalb kurzer Zeit etwas wirklich
Besonderes gewesen sein. Denn damit alle Teilnehmenden sie verstehen
konnten, mussten die Schülerinnen und Schüler der Liebigschule ihre
Recherche zu den NS-Opfern diesmal zweisprachig vortragen. Zu den Anwesenden
zählten nämlich nicht nur der Oberbürgermeister und die Mitglieder der
Koordinierungsgruppe Stolpersteine Gießen, sondern auch aus drei entfernten
Winkeln der Welt angereiste Nachfahren einer Erinnerten.
Angereist aus der ganzen Welt. Martin Eric Speier und seine Ehefrau
Adrienne aus Südafrika, ihre Tochter Danielle Slonim aus dem australischen
Melbourne und Jonathan Speier aus dem US-amerikanischen Florida - sie kommen
buchstäblich von gegenüberliegenden Winkeln des Globus, doch ihre Wege
laufen in Gießen zusammen. 'Es ist uns daher sehr wichtig diesen Moment mit
Ihnen zu teilen', bedankte sich Becher an der ersten Station bei den
internationalen Gästen. Hier nämlich, in der Neustadt 7, wohnte Jenny
Speier, geboren 1885 in Treis/Lumda.
Nachdem ihr Mann Max im ersten Weltkrieg gefallen war, übernahm die Witwe
ein Kolonialwarengeschäft am Landgraf-Philipp-Platz von ihrer Schwester. Ab
März 1939 war sie durch die Nazis mehrmals zum Umziehen gezwungen, zuletzt
in das Ghettohaus in der Walltorstraße 48. Von dort wurde sie am 16.
September 1942 nach Darmstadt und kurz darauf weiter in das besetze Polen
deportiert, wo Jenny vermutlich in Treblinka ermordet wurde. Ihren Kindern
Herbert Hilde und Kurt gelang unter Mühe und nur getrennt die Emigration -
nach Südafrika, Palästina und in die USA. Das erklärt auch, warum die
Familie nun aus so verschiedenen Erdteilen zusammenkam. 'Ich freue mich
sehr, dass die Menschen in Gießen sich die Mühe gemacht haben, Jenny zu
ehren, selbst all die Jahre nach ihrem Tod. Es bedeutet uns sehr viel',
versicherte Martin Speyer. Der letzte überlebende Enkelsohn Jennys
bedauerte, selbst gar nicht viel über seine Großmutter zu wissen. In der
Familie sei, wie so oft, nie über das Trauma der Vergangenheit gesprochen
worden. 'Mein Vater, sein Bruder und seine Schwester wussten nicht, was mit
ihrer Mutter passiert ist', erklärte der Südafrikaner. 'Es gibt mir und
meiner Familie nun eine Möglichkeit, mit diesem Kapitel in unserer
Familiengeschichte abzuschließen', freute er sich an der Verlegung
teilnehmen zu können. Wenn auch nicht mit ihr verwandt, kam die Familie
Speier nichtsdestotrotz auch mit zur zweiten Station in der Marktstraße 9.
Hier hatte Paula Levy bis Februar 1940 ihr Zuhause, bevor auch sie
zum häufigen Wechsel der Wohnung gezwungen war. Wie auch Jenny wurde Paula
in die Goetheschule gebracht und von dort über Darmstadt deportiert. In
Ghetto Theresienstadt ist sie im Februar 1943, vermutlich an Unterernährung
und Entkräftung gestorben.
Klar gegen Rassismus und Genozid. 'Wir haben die Pflicht, nicht nur
sechs Millionen Juden, sondern aller Ermordeten zu gedenken', lautete Martin
Speiers eindringlicher Aufruf. 'Wir müssen laut und klar gegen Rassismus und
Genozid sein.' Besonderen Dank richtete der Nachfahre bei der Gelegenheit an
Christel Buseck von der Gießener Koordinierungsgruppe Stolpersteine. Über
einen Cousin in Israel sei der Kontakt zu ihr hergestellt worden, was die
Reise erst ermöglicht hatte. 'Sie sind eine besondere Person und ich danke
Ihnen für Ihre Verbindung zu den Gießener Jüdinnen und Juden, die so unnötig
gelitten haben', würdigte Speier nun die auch mit der
Hedwig-Burgheim-Medaille ausgezeichnete, pensionierte Lehrerin. Auch Buseck
selbst war von der Anwesenheit der Nachfahren begeistert. 'Für uns in Gießen
ist das etwas Besonderes.' Zur Zeit der 'Begegnungswochen' ab 1982, in der
während der Nazizeit emigrierte Gießener Juden ihre alte Heimatstadt
besuchten, seien, anders als heute, noch viele Zeitzeugen am Leben gewesen.
'Damals waren wir mit den Stolpersteinen leider noch nicht so weit',
bedauerte Buseck. Diese werden in Gießen erst seit 2006 verlegt. 'Aber
erinnert haben wir trotzdem.' Bei dieser Gelegenheit betonte die
Koordinatorin auch, dass das Projekt nur durch Spenden aus der Bevölkerung
realisierbar sei. Und auch wenn diese Verlegung aufgrund des internationalen Besuchs
sicherlich ein Höhepunkt war, so soll auch sie nicht die letzte für 2024
gewesen sein. Schon am 4. Juli beginnt die Nächste um 15.00 Uhr in der Ebelstraße 5."
Link zum Artikel
Vgl.
Artikel in der "Gießener Allgemeinen" zum selben Thema vom 30. Mai 2024 |
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Links und Literatur
Links:
Quellen:
Hinweis
auf online einsehbare Familienregister der jüdischen Gemeinde
Gießen |
In der Website des Hessischen Hauptstaatsarchivs
(innerhalb Arcinsys Hessen) sind die erhaltenen Familienregister aus
hessischen jüdischen Gemeinden einsehbar:
Link zur Übersicht (nach Ortsalphabet) https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/llist?nodeid=g186590&page=1&reload=true&sorting=41
Zu Gießen sind vorhanden (auf der jeweiligen Unterseite zur
Einsichtnahme weiter über "Digitalisate anzeigen"):
HHStAW 365,829 Geburtsregister der Juden von Gießen -
Wieseck 1776 - 1816 - Auszug aus dem Kirchenbuch der
evangelischen Pfarrei Wieseck, zusammengestellt 1943 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v5135969
HHStAW 365,368 Geburts-, Trau- und Sterberegister der Juden
von Gießen 1788 - 1837, enthält Verzeichnis der Geburten,
Trauungen und Sterbefälle, nach 1934 zusammengestellt auf Grundlage von
Akten des Stadtarchivs Gießen durch Josef Marx, Kantor und Lehrer in
Gießen von 1891 bis 1934 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v289937
HHStAW 365,370 Gräberverzeichnis des jüdischen Friedhofs am
Nahrungsberg in Gießen, zusammengestellt auf Grundlage des Memorbuches
und der Sterbeurkunden durch Josef Marx, Kantor und Lehrer in Gießen,
Laufzeit 1836 - 1908, enthält Gräberverzeichnis und Alphabetisches
Register der Verstorbenen mit Angabe der Grabnummer https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v2573921
HHStAW 365,369 Gemeindebuch der jüdischen Gemeinde Gießen
mit Angaben zu Trauungen, Sterbefällen, Schulinspektionen und
Religionsprüfungen 1903 - 1911 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v1030578
|
Literatur:
| Germania Judaica II,1 S. 278-279; III,1 S.
436-437. |
| Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang -
Untergang - Neubeginn. 1971. Bd. |
| ders.: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder -
Dokumente. S. 73-74. |
| Josef Stern: Die Gießener Juden in Israel. In:
Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen. N.F. Bd. 65.
1980. |
| Kurt Heyne u.a.: Judenverfolgung in Gießen und
Umgebung 1933-1945. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins
Gießen. N.F. Bd. 69. 1984. |
| Erwin Knauß: Die jüdische Bevölkerung Gießens
1933-1945. Wiesbaden 1972. |
| Thea Altaras: Synagogen in Hessen. Was geschah seit
1945? 1988 S. 115-117. |
| dies.: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in
Hessen. Was geschah seit 1945 Teil II. 1994. S. |
| Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.):
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der
Verfolgung 1933-1945. Hessen II Regierungsbezirke Gießen und Kassel. 1995 S.
34-37. |
| Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany Volume
III: Hesse - Hesse-Nassau - Frankfurt. Hg. von Yad Vashem 1992
(hebräisch) S. 122-130.
|
| Monica Kingreen: Jüdische Patienten in der Gießener Anstalt und deren Funktion als
"Sammelanstalt" im September 1940, in: Uta George, Herwig Groß, Michael
Putzke, Irmtraut Sahmland, Christina Vanja (Hg.): Psychiatrie in Gießen. Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, Forschung und Heilung, Gießen 2003, S. 251-289. |
| Monica Kingreen: Gewaltsam verschleppt aus Oberhessen. Die Deportationen der Juden im September 1942 und in den Jahren 1953-1945, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen, Neue Folge 85. Band 2000, Gießen 2001, S.
5-95. |
| Zwei Beiträge von Dagmar Klein (erschienen als
Beiträge in: Hessische Heimat. Geschichtsbeilage der Gießener Allgemeinen
Zeitung = HH-GAZ)
Dagmar Klein: Recht auf eigenständiges Denken. Spurensuche zu
Henriette Fürth in Gießen. Erschienen in HH-GAZ vom 29. August 2009. Eingestellt
als pdf-Datei.
dies: Der Retter vieler jüdischer Kinder. Walter Süskind (1906-1945) lebte
ein Gutteil seiner Jugend im Gießener Neuenweg. In HH-GAZ vom 15. August
2009. Eingestellt
als pdf-Datei. |
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Heinz Warny: kg.Brüssel. Zum Lebenswerk des Journalisten Kurt
Grünebaum. 256 S. Grenz-Echo Verlag Eupen. Verlagsseite
zu diesem Buch.
Besprechung des Buches in einem Artikel
vom 20.11.2010 von Heinz Godesar: Abenteuerliches Leben im Dienst der Presse
(auch als pdf-Datei
eingestellt).
Der in Gießen (Hessen) geborene deutsche Journalist Kurt Grünebaum wollte vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten im Frühjahr des Jahres 1933 nur vorübergehend von Köln nach Belgien ausweichen.
Doch das Land, das ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war, wurde seine zweite Heimat. Hierhin kehrte er auch nach der Abschiebung 1940 in die französischen Lager
Gurs und St.-Cyprien und nach der Flucht in die Schweiz zurück. Kurt Grünebaum blieb bis zu seinem Tode in seinem Gastland
Belgien. |
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Hanno
Müller: Juden in Gießen 1788-1942.
Hrsg. vom Magistrat der Universitätsstadt Gießen, Stadtarchiv Gießen.
ISBN 978-3-930489-53-4. 851 S. Gießen 2012.
Zu beziehen über: Stadtarchiv Gießen Berliner Platz 1 Postfach
110820 D-35353 Gießen Website
mit Kontaktformular E-Mail.
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| Stolpersteine in Gießen". Hrsg.
von Christel Buseck, Monika Graulich, Dagmar Klein, Ursula Schroeter,
Klaus Weißgerber, Ludwig Brake. 112 S.
Gießen 2012. 7,50 € vgl. www.stolpersteine-giessen.de/
Link über zwei Presseartikel zum Erscheinen
des Buches:
- Artikel
"V
- Weiterer Artikel in der "Gießener Allgemeinen" vom 21. Juni
2012: "Stolperstein-Buch zieht keinen Schlussstrich..."
Link
zum Artikel . |
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Hanno
Müller: Fotos Gießener Juden.
Hrsg. vom Magistrat der Universitätsstadt Gießen, Stadtarchiv Gießen. ISBN:
978-3-930489-67-1. 252 S. Gießen 2019.
Zu beziehen über: Stadtarchiv Gießen. Berliner Platz 1 Postfach 110820
D-35390 Gießen Website
mit Kontaktformular E-Mail.
Kontakt zum Autor:
hanno.mueller@fambu-oberhessen.de. |
| Marion Davies: The Bock Family from Lich. 1700s to
1874/75. Researched and compiled by Marion Davies 2023 (mit Bezügen zu
Gießen).
Eingestellt zum Download als pdf-Datei. |
Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Giessen
Hesse. Jews lived there from the mid-13th century, but their
community was annihilated in the Black Death persecutions of 1348-49. After
returning early in the 15th century, Jews were banished in 1662.
The community was reorganized in 1720-25, and Jews helped Giessen become
a center of the livestock trade. When Abraham Alexander Wolff left to become
chief rabbi of Denmark in 1828, je was succeeded by Benedikt Samuel Levi, a
champion of Jewish rights, whose rabbinical career spanned 69 years (1828-1896).
During his time an organ and choir were introduced into the synagogue,
representing the Liberal orientation of the community. Giessen replaced Friedberg
as the seat of Upper Hesse's chief rabbinate in 1842 and another synagogue was
constructed between 1867-1891. Hermann Levi, Benedikt's son, won fame as a
conductor (especially of Wagner's operas). Orthodox seccessionists later founded
a separate community (Austrittsgemeinde) in 1887, chose a different rabbi,
and built their own synagogue in 1899. Leo Hirschfeld served as their regional
chief rabbi (1895-1933). The city's Jewish population grew from 384 in 1871 to
1.035 (over 3 % of the total) in 1910 and Jews were elected to the city council,
the chamber of commerce, and the state assembly (Landtag).
Although Jews were barred from teaching posts at the University of
Giessen until 1873, they constituted 10 % of the faculty members during the
Weimar Republic. Scholars in different fields - Margarete Bieber (art history
and archeology), Fritz Heichelheim (ancient history), Kurt Koffka and Erich Stein
(psychology), Richard Laqueur (classical literatur), Samuel Bialoblocki and
Yisrael Rabin (Judaica) - were among those who taught there before the Nazi era.
Relations between the Liberal and Orthodox communities improved after Worldwar
I, both groups working together in local branches of the Central Union (C.V.),
the Jewish War Veterans Association and German Zionist Organization, and several
youth movements. Jews played a leading role in cultural and professional life
during the Weimar Republic. Many festive events took place in the community
center and a large number of students at the university promoted Zionism. Among
the first graduates to leave for Palestine were Adolf Reifenberg, a Hebrew
University agronomist from 1924 and an expert of ancient Jewish coins; Moshe
Smoira, first president of Israel's Supreme Court (1948-54); and the
archeologist Benjamin (Maisler) Mazar, who later became president of the Hebrew
University (1953-61).
Antisemitism war prevalent in Giessen long before the Nazi .
As elsewhere in Germany when Hitler came to power in 1933, anti-Jewish violence
mounted day by day as the Nazi boycott was imposed (1 April). A book-burning
ceremony took place on 8 May, and the last 'non-Aryan' teachers were dismissed
from the university on 20 July. Communal and Zionist workers fostered aliya
while maintaining a semblance of Jewish life. The Liberal and Orthodox
communities amalgamated shortly before Kristallnacht (9-10 November
1938), when both synagogues were destroyed in a general pogrom. Of the 1.265
Jews living in Giessen and its vicinity in 1933, 730 had emigrated of moved
elsewhere by the end of 1938. The community (swelled by refugees) vanished when
the last remaining Jews were deported in September 1942. On 2 March 1943,
Giessen was declared 'free of Jews' (judenrein). According to an official
estimate, 465 Jews emigrated during the Nazi period, (185 to Palestine and 176
to the United States); 346 perished in death camps. The fate of another 530 is
uncertain.
Mainly comprising students and former Displaced Persons, the Jewish community
established after Worldwar II numbered 200 in 1998.
vorherige Synagoge zur ersten Synagoge nächste Synagoge
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