Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Mitbrüder im Dienst als Diakon, Priester und Bischof,
liebe Kinder und Jugendliche!
Viele von uns haben schon oft dieses Evangelium aus dem vierten Kapitel nach Lukas gehört: Die Antrittspredigt Jesu in seiner Heimat Nazaret. Und weil wir das schon so oft gehört haben, übersehen wir leicht, welch eine Wucht das gehabt haben muss, was Jesus den Menschen in seiner Heimatstadt sagt. Es muss damals wie eine Bombe eingeschlagen haben. So berichtet der Evangelist Lukas ja auch, dass die Menschen zunächst voller Staunen und Freude darüber waren, dass die Verheißungen, die der Prophet Jesaja vor so langer Zeit angekündigt hatte, sich nun endlich erfüllen sollten. Aber Freude und Staunen verwandeln sich in Aggression und Ablehnung, als die Menschen zu begreifen beginnen, was Jesus ihnen wirklich sagt: Nichts weniger, als dass er selbst der Hoffnungsträger schlechthin ist, auf den die Menschen gewartet haben. Er selbst ist die Erfüllung. Denn er ist der Gesalbte und Gesandte Gottes. Das, was der Prophet über den geheimnisvollen Gottesknecht prophezeit hat, das bezieht Jesus auf sich: Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Armen eine Frohe Botschaft zu bringen (Jes 61,1). „Unglaublich! Wieso ausgerechnet er, der junge Mann aus der Nachbarschaft, aus der Familie des Josef und der Maria? Sollte er tatsächlich ausgestattet sein mit höchster Autorität und Würde?“ Die Provokation dieses Anspruchs wird Jesus schließlich das Leben kosten.
Nach seiner Auferstehung werden seine Jünger diesen Anspruch und dieses Selbstbewusstsein aufgreifen und werden es noch ausweiten, indem sie sagen – wir haben es in der Lesung aus der Offenbarung des Johannes gehört: Er, Christus, der treue Zeuge, der Herrscher über die Könige, er liebt uns. Er hat uns von unseren Sünden befreit, und er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Auch wir sind in seiner Nachfolge Gesalbte des Herrn (vgl. Offb 1,5f). Das, was im Alten Testament nur den Königen, den Propheten und Priestern vorbehalten war, das gilt nun für alle, die zu Christus gehören, die auf seinen Namen getauft sind. Was für ein Anspruch, was für ein Selbstbewusstsein! Unter denen, die so von sich sprechen, waren nicht die Vornehmen und Mächtigen der damaligen Zeit, sondern in der Mehrzahl waren es einfache, ungebildete Männer und Frauen, Kinder, Sklaven, vor allem aber auch Menschen, die Götzen nachgelaufen sind (vgl. 1 Kor 1,26f). In den Augen der damaligen Zeit gehörten viele der Christen zum Gesindel, rangierten sozial in der unteren Schublade … Und die verstehen sich nun als Priester und Könige!
Liebe Schwestern und Brüder, ich habe mich gefragt, wie man das Selbstbewusstsein der frühen Christen heute in unserer demokratischen Bürgergesellschaft, in der von Königen nur noch selten die Rede ist, veranschaulichen könnte. Wie soll ich vor allem Euch, liebe Kinder, das anschaulich machen? Es ist mir das Bild vom roten Teppich eingefallen, den man ausrollt, wenn bedeutende Gäste kommen, Staatsoberhäupter etwa. Wir kennen das: den Gang über den roten Teppich. Der rote Teppich wird auch ausgerollt für die großen Stars. Nur sie dürfen über diesen Teppich gehen. In der Regel bewachen Sicherheitsleute den Teppich. Sie halten die einfachen Leute hinter den Absperrungen. Für das neue Selbstbewusstsein der Christen in der jungen Kirche sind gewissermaßen die Absperrungen gefallen. Der rote Teppich ist nicht nur einigen wenigen vorbehalten. Nein, Gott hat ihn auch vor uns und für uns ausgerollt. Wir dürfen auf ihm gehen, so haben die Christen dies empfunden.
Und wie ist das hier im Dom? Hier haben wir ja keinen roten Teppich … Aber wir haben hier im Dom besondere Plätze. Sie sind wohl am ehesten vergleichbar mit dem, was im weltlichen Bereich der rote Teppich ist. Die Plätze befinden sich hier oben im Chor. Zu ihnen gehört vor allem einer, der reserviert ist: Es ist der Sitz des Bischofs. Vor der Messe habe ich den Michael, einen Messdiener aus Andernach gefragt, ob er mich bei meiner Predigt unterstützt, und er hat mir zugesagt, dass er mir hilft. Ich musste ihm nur versprechen, dass er nichts sagen muss. Nein, er braucht nichts zu sagen, er soll nur eines tun: Er soll einmal den Platz des Bischofs oben einnehmen, um damit zu zeigen, was die Christen meinen, wenn sie sagen: Gott hat uns zu Königen und zu Priestern gemacht.
[Michael nimmt Platz auf der "Kathedra". Der Dom applaudiert.]
Wenn wir nun den Michael sehen, können wir besser verstehen, wovon die Schriftlesungen und gerade dieser Gottesdienst sprechen: Es geht um die Würde der Erlösten. Sie ist nicht nur einigen wenigen vorbehalten, sondern Gott hat sie uns allen zugedacht. Das gilt übrigens auch für die Würde des Bischofsamtes: Denn mit dem, was der Bischof tut, steht er im Dienst an der Würde des Volkes Gottes als Ganzem. Zu diesem Dienst gehört die Weihe der heiligen Öle, die für die Sakramente der Christwerdung benutzt werden und die in besonderer Weise die Würde des Christen bezeichnen.
Der Bischof steht aber auch noch in einem anderen Sinn im Dienst am Volk Gottes: Denn in ihm dürfen und sollen sich auch die Getauften repräsentiert sehen. Das gilt für ihn und für alle, die ein besonderes Amt bekleiden: Sie sollen sinnenfällig und konkret das veranschaulichen, was im Tiefsten für alle gilt: „Ja, Herr, Du hast uns durch die Salbung zu Königen und Priestern gemacht vor unserem Gott!“
So zu sprechen, wäre pure Anmaßung und Größenwahn, wenn Menschen dies selbstmächtig an sich reißen wollten und dies einfach von sich behaupteten. Aber gerade das ist nicht die Haltung der Christen. Denn das Selbstbewusstsein – besser: die Würde – der Getauften ist pures, unverdientes Geschenk. Dieses Geschenk empfangen wir in besonders dichter Weise in den Sakramenten, in denen das Öl zur Salbung verwendet wird.
Worin, liebe Schwestern und Brüder, besteht aber im Letzten dieses Geschenk, das uns in den Sakramenten zuteilwird? Nicht die Salbung, nicht der Ritus selbst ist ja das eigentliche Geschenk. Nein, die Sakramente sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als wirkmächtige Zeichen dafür, dass Gott sich uns zuwendet. Jedem, der ein bestimmtes Sakrament empfängt, sagt Gott: „Ich sehe Dich, und ich weiß um Dich: Du bist mir wertvoll, ja kostbar.“ Diese Zusage schenkt dem Menschen eine einzigartige Würde.
Und gerade weil mir diese Zusage geschenkt wird, öffnet sie mir die Augen nicht nur für die eigene Würde, sondern auch für die Würde der anderen, ja für die Würde des Menschen insgesamt. Die Würde des Christen geht nicht zulasten anderer. Unsere Würde speist sich nicht daraus, dass wir andere als unwürdig ansehen. Wie oft aber versuchen Menschen sich Würde und Größe dadurch zu sichern, dass sie andere klein halten und abwerten, um so ihr eigenes Selbstbewusstsein zu stärken. Die Würde des Christen ist keine eifersüchtige Würde. Im Gegenteil: Der Glaube öffnet die Augen für die Würde jedes Menschen. Denn er ist ein Wesen, das von Gott geschaffen und geliebt ist.
Deshalb öffnet der Glaube aber auch die Augen für die Situationen, in denen diese Würde gefährdet ist, egal ob dies durch äußere Umstände oder durch eigenes Zutun geschieht. Christen setzen sich mit Worten und Taten dafür ein, dass die Würde des Menschen bewahrt, gestärkt oder wiederhergestellt wird. Gerade hier spielt auch das konkrete karitative Tun eine ganz wesentliche Rolle. Christen setzen sich zum Beispiel ein, wenn die Würde des Menschen dadurch in Gefahr gerät,
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens unseres Caritasverbandes will ich von Herzen danken für das vielfältige Engagement, das ich bei meinen Besuchen vor Ort im Bistum in diesem Bereich immer wieder erleben darf. Ich bin dankbar für die unzähligen Menschen, die sich ohne großes Aufhebens und mit großer Selbstverständlichkeit in den zurückliegenden 100 Jahren engagiert haben und heute engagieren. Und ich bin ebenso denen dankbar, die hauptberuflich ihre Professionalität und ihre fachliche Kompetenz einbringen, gerade auch in der verbandlichen Caritas; und die ihre Stimme zugunsten aller derjenigen erheben, die Hilfe brauchen. Darum ging es Bischof Korum schon damals vor 100 Jahren auch, dass es mit dem Verband eine starke politische Stimme in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gibt.
Liebe Schwestern und Brüder, vor allem auch liebe „Caritäterinnen“ und „Caritäter“, die Sie heute hier sind, es ist wirklich schön, dass der Auftakt des Jubiläumsjahres der Caritas mit der Feier der Chrisammesse zusammenfällt. Denn gerade der Gottesdienst der Ölweihe erinnert uns an den Ausgangspunkt für all unseren karitativen Einsatz. Er heißt: die Würde des Menschen stärken und zum Leuchten bringen. Vergessen wir dies über all‘ unserem tagtäglichen Einsatz nicht. Natürlich geht es immer auch um konkrete Hilfeleistungen für bestimmte Situationen. Aber alle Hilfeleistungen blieben nur Oberfläche und kalte Sachleistung, wenn die Menschen, die sich Ihnen, die sich uns anvertrauen, nicht darin spüren würden: „Derjenige, der mir da hilft, wendet sich tatsächlich mir als Person zu. Er meint mich.“
Um das nicht zu vergessen, hat Papst Franziskus schon häufiger eine schöne Faustformel genannt. Sie heißt: den Anderen immer anschauen. Nicht einmal dem Straßenbettler, so sagt der Papst, eine Gabe – und wären es 100 Euro – von oben herab in den Becher oder den Hut werfen, sondern ihn anschauen. Den Anderen anzuschauen erfordert die Würde, die ihm von Gott gegeben ist. Nehmen wir diese Faustformel mit. Begegnen wir jedem Menschen mit Respekt vor seiner gottgegebenen Würde und entdecken dadurch neu unsere eigene Würde als Christen. Amen.