"Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf"

Predigt von Bischof Stephan Ackermann zum Jahresschluss-Gottesdienst 2010 im Trierer Dom

Schriftlesung:  Röm 13,11-14a

Liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Wir stehen auf der Schwelle zu einem Neuen Jahr. Das gibt uns wieder die Gelegenheit, aber auch irgendwie die Verpflichtung, innezuhalten, um innerlich zurück und nach vorne zu schauen. Freilich, als Christen haben wir bereits mit dem Beginn des Advents die Schwelle zu einem neuen Kirchenjahr überschritten. Da aber diese Zäsur im allgemeinen Bewusstsein nicht so einschneidend ist wie der Wechsel des Kalenderjahres, nehmen wir sie auch nicht so stark wahr.

Mit dem Abschnitt aus dem Römerbrief des Apostels Paulus, den ich als Lesung für diesen Gottesdienst ausgewählt habe, will ich noch einmal anknüpfen an den Beginn dieses Kirchenjahres. Denn dieser Text gehört zu den biblischen Lesungen, die uns am vergangenen Ersten Adventssonntag von der Liturgie vorgelegt worden sind. Was mich an diesem Text besonders fasziniert, ist die Perspektive, mit der Paulus auf die Zeit, auch die Zeit seines eigenen Lebens schaut. Der Apostel ist sich gewiss, dass er mit jedem Tag seines Lebens dem Heil näher kommt. Deshalb auch sein Weckruf: »Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden« (Röm 13,11). Was ist dieses Heil letztlich anderes als Jesus Christus selbst? Er ist Gottes Nähe und Heil in Person. So versteht Paulus also sein persönliches Leben und das Leben seiner Mitchristen seit der Annahme des Glaubens in der Taufe als ein permanentes Unterwegssein zu Jesus Christus, der seinerseits nicht starr und abwartend ist, sondern den Christen entgegenkommt.

Eine Grund-Perspektive des christlichen Lebens...

Diese paulinische Sicht bietet sich als Grundperspektive des christlichen Lebens insgesamt an. Sind wir bereit, sie zu übernehmen – persönlich und gemeinschaftlich? Stimmt sie für uns im Blick zurück auf das Jahr 2010? Sind wir in diesem und durch dieses Jahr dem Heil tatsächlich näher gekommen? Ist das Heil uns näher gekommen? Liebe Schwestern und Brüder, diese Frageperspektive möchte ich mit Ihnen einnehmen, wenn ich nun auf der Schwelle in ein Neues Jahr für unser Bistum den Blick zurück und nach vorne richte.

Dabei will ich zunächst noch einmal an meine Silvesterpredigt vom vergangenen Jahr erinnern. In ihr hatte ich zu einer Grundhaltung ermutigt, die ich in Anlehnung an ein Wort des Philosophen Albert Görres als »Gehorsam der Sachlichkeit« bezeichnet habe. Dieser Gehorsam verzichtet auf die uns Menschen so naheliegende Tendenz, die Dinge so zu sehen, wie wir sie gern hätten. Der Gehorsam der Sachlichkeit ist stattdessen bereit, »die Dinge und Verhältnisse erst einmal sie selbst sein zu lassen«, das heißt, »den eigenen Verstand nach ihnen [zu] richten« und sie nicht durch unser Wunschdenken zu verzerren (Vgl. Silvesterpredigt von 2009). Als ich diesen Gedanken vorschlug, konnte ich noch nicht ahnen, welch dringliche Aktualität er im Laufe des Jahres gewinnen würde.

Schauen wir also noch einmal auf 2010. Was sind die wesentlichen »Dinge und Verhältnisse«, die sich uns im Rückblick zeigen?

I. Große Themen des Jahres 2010

Ich sehe vor allem drei große Themen, die das Jahr in unserem Bistum geprägt haben.

1. Die Bolivienpartnerschaft

Da ist zunächst die so positive und motivierende Feier des 50-jährigen Bestehens unserer Partnerschaft mit der Kirche in Bolivien. Ausgehend von der »Gemeinschaft gegenseitiger brüderlicher Hilfe« zwischen dem Erzbischof von Sucre, Jose Clemente Maurer, und dem Bischof von Trier, Matthias Wehr, hat diese Partnerschaft inzwischen über fünf Jahrzehnte ihre Kreise gezogen und nicht nur das ganze Land Bolivien erfasst, sondern auch hier in Deutschland Verstärkung erfahren durch die Partnerschaft, die die Diözese Hildesheim 1987 mit der Kirche in Bolivien geschlossen hat.

Bereits am 4. Oktober 2009 hatten wir, eine Woche nach dem Auftakt in Santa Cruz, hier in Trier das Jubiläumsjahr eröffnet. Mit einem bunten, ideenreichen Strauß von Veranstaltungen, Begegnungen und Aktionen erstreckte es sich bis in den Oktober diesen Jahres. Die Jubiläumsfeier hat gezeigt, wie wieviele Fäden der Verbundenheit auf der Ebene von Bistum, Pfarreien, Schulen und Kreisen über die Jahre hin geknüpft worden sind. Von Herzen danke ich noch einmal allen, die sich für das Gelingen dieses Festjahres eingesetzt haben.

Bolivien: "Gottes Reich" als zentrales Motiv der Verkündigung

Ein besonderer Höhepunkt darin war für mich persönlich natürlich die Reise, die mich im Sommer zum ersten Mal in das Land unserer bolivianischen Schwestern und Brüder brachte. Dabei lernte ich eine Kirche kennen, die in vielerlei Bedrängnissen, nicht zuletzt politischer Art, steht und zugleich sehr vital ist. Das zentrale Motiv ihrer Verkündigung ist immer wieder das in Jesus Christus angebrochene Reich Gottes. Es meint ein Leben in Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden und Liebe und ist damit eine Botschaft der Hoffnung für alle Menschen des Landes, ob sie der Kirche näher oder ferner oder gar ablehnend gegenüber stehen. Vor allem der Vorsitzende der bolivianischen Bischofskonferenz, Kardinal Julio Terrazas, wird nicht müde, dies immer wieder auch gegen Widerstände und persönliche Anfeindungen zu betonen. Die begründete Hoffnung auf das Reich Gottes wachzuhalten, das im konkreten Hier und Heute beginnt, ist der Auftrag, dem sich die Kirche Boliviens verpflichtet weiß.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Begegnungen, die ich im Laufe des Jubiläumsjahres mit den jungen Erwachsenen hatte, die als Freiwillige von uns nach Bolivien gehen oder von Bolivien nach Deutschland kommen. Die Begeisterung und Einsatzbereitschaft, die bei den jungen Leuten zu spüren war, ist für mich besonders ermutigend gewesen. Ich bin davon überzeugt, dass sie die Missionare der Zukunft sind.

2. Aufdeckung von Fällen Sexuellen Missbrauchs

Das zweite Thema, das das zurückliegende Jahr nicht nur geprägt, sondern vor allem in seiner ersten Häfte geradezu dominiert hat, war die Aufdeckung der Fälle von sexuellem Missbrauch im Bereich unserer Kirche. Hier war der »Gehorsam der Sachlichkeit« besonders schmerzlich, und er musste in den ersten Wochen des Bekanntwerdens intensiv gelernt werden. Auch in unserem Bistum sind wir von schmerzlichen Erkenntnissen auf diesem Feld nicht verschont geblieben. Bis heute haben sich 40 Personen, die in den letzten sechs Jahrzehnten im Bereich des Bistums Trier Opfer sexueller Gewalt geworden sind, gemeldet.

Ich will an dieser Stelle nicht noch einmal aufzählen, welche Maßnahmen wir zwischenzeitlich für die Aufklärung dieser schrecklichen Vergehen sowie für die Prävention auf der Ebene der Bischofskonferenz und für den Bereich der Diözese ergriffen haben. Das ist in den letzten Wochen und Monaten bereits häufiger geschehen und wird in Kürze auch noch einmal dokumentiert werden (Vgl. die bereits abrufbaren Informationen unter www.dbk.de/themen/thema-sexueller-missbrauch; www.hilfe-missbrauch.de; www.praevention-kirche.de; www.praevention-bildung.dbk.de; www.bistum-trier.de. Demnächst wird eine Dokumentation in der Reihe »Arbeitshilfen« der Deutschen Bischofskonferenz erscheinen).

Es stehen weitere "Hausaufgaben" an

Ich möchte hier auch keine Art von »Leistungsbilanz« vorlegen. Noch immer stehen zu gewichtige »Hausaufgaben« an, die im kommenden Jahr zu bearbeiten sind (Stichworte: Frage der materiellen Anerkennung und anderer Hilfen für die Betroffenen/ wissenschaftliche Aufarbeitung des Missbrauchs im Bereich der Kirche). Dennoch möchte ich bei dieser Gelegenheit aufrichtig all denen danken, die mir in meiner diözesanen und in meiner überdiözesanen Verantwortung mit einem hohen fachlichen und zeitlichen Einsatz zur Seite gestanden haben.

In dem Bischofswort, das ich aus Anlass des Missbrauchsskandals während der Fastenzeit an die Gläubigen im Bistum gerichtet habe, habe ich daran erinnert, dass P. Johannes Paul II., im Rahmen des Großen Jubiläums des Jahres 2000 eine »Reinigung des Gedächtnisses« der Kirche vollziehen wollte, damit sie »demütiger und wachsamer« den Weg des Evangeliums weitergehen könne (Novo Millennio Ineunte, 6). Häufig habe ich in den letzten Monaten an dieses Wort des Papstes denken müssen. Nach meiner Überzeugung hat die Aufdeckung der Missbrauchsfälle eine schmerzliche Reinigung des kirchlichen Gedächtnisses in Gang gesetzt. Das Bild der »guten alten Zeit« der Volkskirche, dem nicht wenige Menschen in unseren Gemeinden nachtrauern, hat Risse bekommen: Wir müssen offener zugeben, dass diese Zeit nicht so gut und heil war, wie es in der verklärenden Rückschau den Anschein hat. Die Vergehen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker gehören - Gott sei Dank, soweit wir das sehen - zu den seltenen Ausnahmen. Gerade die Fachleute haben darauf hingewiesen, dass wir es hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun haben, vor dem wir nicht die Augen verschließen dürfen.

Die Diskussionen des vergangenen Jahres zeigten aber leider auch, wie sehr die Volkskirche von Formen der Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen geprägt war. Zu Entschuldigung mag man vorbringen, dass sich der Stil der Kirche damit nicht von dem unterschied, was allgemein in Familie und Gesellschaft gang und gäbe war. Aber ist das für die Kirche Jesu Christi wirklich eine brauchbare Entschuldigung? Ich meine nicht.

Kein ungerechtfertigter Generalverdacht

Lassen Sie mich angesichts des Missbrauchsskandals noch ein Wort zur Situation der Priester sagen: Die Mitbrüder sahen sich zeitweilig unberechtigterweise einem Generalverdacht ausgesetzt. Dieser machte ihnen umso schwerer zu schaffen, wenn er nicht nur von Menschen geäußert wurde, die der Kirche distanziert gegenüber stehen, sondern sogar aus dem Kreis der Aktiven oder gar der Hauptamtlichen kam. Als ich davon in den Dekanatsgesprächen mit den Priestern hörte, hat mich dies erschrocken und traurig gemacht.

Mancher Priester fühlte sich in der Öffentlichkeit auch zu wenig vom Bischof gestützt. Wenn dieser Eindruck entstanden ist, so bedauere ich dies. Unsere Priester haben es wahrhaftig nicht verdient, dass man ihnen mit pauschalen Verdächtigungen begegnet. Zugleich bitte ich die Mitbrüder um Verständnis dafür, dass ich mit meinen Stellungnahmen nicht den Eindruck erwecken wollte, eine vorschnelle Verteidigungshaltung einzunehmen, die sich den bitteren Realitäten nicht stellen will.

Darüber hinaus ist mir wohl bewusst, dass sehr viele Gläubige in unseren Gemeinden völlig unverschuldet unter dieser Situation zu leiden hatten, dass sie sich zum Teil ohnmächtig und sprachlos heftigen Kritiken und Anfragen ausgesetzt sahen. Ich danke allen, die diese Situation ausgehalten und in Solidarität zur Kirche mitgetragen haben.

Viele verlassen die Kirche - wie halten wir Kontakt?

Nicht wenige Kirchenmitglieder haben sich allerdings anders entschieden. Sie haben die Enthüllungen über Verfehlungen von Amtsträgern zum Anlass genommen, der Kirche den Rücken zu kehren. Fast 8.000 Menschen sind während der vergangenen zwölf Monate im Bistum Trier aus der katholischen Kirche ausgetreten. Das entspricht einer großen Pfarreiengemeinschaft. In der Regel stellt der Kirchenaustritt die letzte Konsequenz eines bereits länger andauernden Entfremdungsprozesses zwischen dem Getauften und seiner Kirche dar. Nach manchen Zuschriften, die ich bekam, zu urteilen, haben Menschen gerade in diesem Jahr aber auch im Affekt gehandelt, um mit ihrem Kirchenaustritt jemanden – aber wen eigentlich? – zu strafen.

Weder die Zahl, noch die Sache eines Kirchenaustritts lässt mich als Bischof kalt, und sie kann uns als Bistumsgemeinschaft insgesamt nicht gleichgültig lassen. Wir werden uns - als Hauptamtliche und als Gemeinden - noch intensiver fragen müssen, wie wir auch mit den Fernstehenden im Kontakt bleiben und unserer seelsorglichen Verantwortung für sie gerecht werden. Andererseits haben wir natürlich die Freiheit zu respektieren, aber auch die eigene Verantwortung, die jeder Mensch in Fragen des Glaubens für sich persönlich hat.

3. Finanzen

Das dritte Thema schließlich, das rückblickend zu benennen ist, kreist um die finanziellen Ressourcen, die uns als Bistum künftig zur Verfügung stehen.

Unter dem Stichwort »Finanzieren und Investieren« haben wir uns im Jahr 2010 intensiv mit dieser Frage befasst. Im Unterschied zum vorangehenden Thema war dieses Thema schon vor Beginn des Jahres abzusehen. In der letzten Silvesterpredigt hatte ich bereits die Vermutung geäußert, dass der von uns vorgesehene Weg, über eine sogenannte Aufgabenkritik zu einer Reduzierung der Bistumsausgaben zu kommen, nicht ungeteilte Zustimmung finden wird. Diese Vermutung hat sich bestätigt. Es gab viele, mitunter leidenschaftliche Rückmeldungen und Diskussionen zu dem im Juni vorgelegten Kostensenkungsentwurf.

Nur leicht verbesserte Aussichten

Nicht bestätigt haben sich glücklicherweise die Prognosen der Fachleute über die Höhe des Defizits im Bistumshaushalt. Das hat zur Folge, dass wir die Absenkung der Kosten nicht so rasch umsetzen müssen, wir dies noch vor einem Jahr notwendig erschien. Manch einer hat daraus den Schluss gezogen, meinem Generalvikar und seinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine allzu große Ängstlichkeit zu attestieren. Ich kann dazu nur sagen: Im Nachhinein ist man immer schlauer, zumal dann, wenn man nicht die Last der Verantwortung zu tragen hat. Ich möchte jedenfalls noch einmal allen danken, die den Diskussionsprozess zur Kostensenkung bis hierher vorbereitet und gestaltet haben, und sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht haben, in der Sache solide und im Verfahren so transparent und beteiligungsorientiert wie möglich, vorzugehen. Dennoch konnten in einem solchen Prozess bei allem guten Willen Unverständnis, Ärger und Enttäuschungen nicht ausbleiben. Der Verlauf der Diskussionen und der im Oktober dann von mir vorgelegte Beschluss zeigen nach meiner Einschätzung aber, dass die zugesagten Anhörungen und Beratungen keine pro forma-Versprechen waren, sondern von allen Beteiligten ernst genommen wurden. Auch dafür danke ich. Für mich hat sich gerade in diesem Prozess die Haltung des Sachgehorsams bewahrheitet, der bereit ist, aufeinander zu hören und auch von vorgelegten Konzepten abzuweichen, wenn es der Sache, um die es geht, mehr entspricht und dient.

Blick auf inhaltliche Fragen...

Darüber hinaus hat uns der Beratungsprozess um die Finanzen überraschend direkt zu wichtigen inhaltlichen Fragestellungen geführt. Ich denke dabei vor allem an das Thema der (außerschulischen) Bildung in seiner Bedeutung für das kirchliche Leben in unserer Zeit sowie die Suche nach geeigneten Maßnahmen zur Entlastung im administrativen Bereich unserer Kirchengemeinden. Mit ihnen wollen wir eine erneuerte Aufmerksamkeit und Kraft für die Seelsorge gewinnen. Für beide Themenkomplexe sind bereits entsprechende Prozesse auf den Weg gebracht. Ihre Ergebnisse sollen im November des nächsten Jahres vorliegen.

II. Aufgaben und Perspektiven für das Jahr 2011

Es ist heute schon abzusehen, dass auch das Jahr 2011 ein herausforderndes Jahr werden wird. Das gilt insbesondere für die Gemeinden in unserem Bistum: Der Umriss der neuen pastoralen Räume liegt fest. Nun gilt es, die personelle und strukturelle Ausgestaltung Schritt für Schritt weiter zu konkretisieren. Dazu zählen die notwendigen Vereinbarungen über die künftige Zusammenarbeit der Pfarrer sowie aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pfarreiengemeinschaften. Dazu gehört die für den 1. September geplante Errichtung der Kirchengemeindeverbände, die künftig die rechtlichen Träger für die gemeinsamen Aufgaben innerhalb der Pfarreiengemeinschaften sein werden. Dazu gehört schließlich die Wahl der Pfarrgemeinderäte am letzten Oktoberwochenende und die sich anschließende Wahl der Verwaltungsräte.

Strukturplan wird Realität werden

Seit der Inkraftsetzung des Strukturplans im Sommer 2007 haben sich die Verantwortlichen im Generalvikariat und die diözesanen Beratungsgremien auf diese Schritte vorbereitet. Im kommenden Jahr werden sie nun konkrete Realität. Auf dem Weg dorthin werden viele Fragen auftauchen. Umso wichtiger ist eine rechtzeitige und präzise Information. Generalvikar und Direktoren werden deshalb zusammen mit zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den nächsten drei Monaten in alle Dekanate fahren, um vor Ort die notwendigen Informationen zu geben.

Dennoch wird es bei allem guten Willen und aller Sorgfalt in der Vorbereitung auch hier zu Verunsicherungen und Befürchtungen kommen. Das sollte uns nicht allzu sehr überraschen. Denn es ist so, wir stehen in einem epochalen Umbruch der sozialen Gestalt der Kirche in unserem Land. Die wirkliche Tragweite dieses Umbruchs, davon bin ich überzeugt, können wir zur Zeit noch nicht absehen. Das macht es uns einerseits schwer, aber vielleicht liegt darin andererseits auch die gnädige Führung Gottes.

Spirituelle Grund-Linien

Abschließend möchte ich zwei spirituelle Grundlinien benennen. Sie wollen helfen, angesichts all der anstehenden Fragen und Aufgaben im kommenden Jahr den großen Horizonts unseres Christseins nicht aus dem Blick zu verlieren.

1. Augen haben für Gnade und Gewinn

Zunächst möchte ich noch einmal erinnern an eine geistliche Mahnung des hl. Franz von Assisi, die ich schon in der letzten Silvesterpredigt zitiert habe. Sie lautet: »Alles sollst du als Gnade ansehen. Was dir widerfährt, sollst du wollen und nichts anderes!« Ein provozierender Ratschlag, der unseren unmittelbaren menschlichen Empfindungen zuwider läuft. Doch er führt zu einer Grundfrage des Glaubens. Sie heißt: Kann ich wirklich glauben, dass Gott mir durch alle Situationen des Lebens, mögen sie schön oder schmerzlich sein, entgegen tritt? Kann und will ich glauben, dass Gott mir im Tiefsten gut ist, dass er – wie es in einem unserer Kirchenlieder heißt - »mir nichts Böses gönnen kann«? (Vgl. Gotteslob Nr. 294, 3. Strophe).

Wenn ich diese individuell formulierte Frage nun auf die Situationen von Gruppen, Einrichtungen und Pfarreiengemeinschaften oder gar das ganze Bistum anwende, dann könnte sie lauten: Gibt es bei allen Schwierigkeiten nicht auch einen Gewinn aus der Situation, in die wir hineingestellt sind? Worin könnte er liegen? Manche Pfarreiengemeinschaft in unserem Bistum hat zum Beispiel schon den Gewinn einer verstärkten Kooperation in den größeren Räumen entdeckt.

Nach Schmerz und Verlust angesichts anstehender Veränderungen zu fragen, brauchen wir uns nicht so bewusst vorzunehmen wie die Frage nach dem Gewinn. Denn für den Verlust stellt sich die Antwort in der Regel schneller ein. Auch sie ist wichtig. Auch sie darf nicht unterdrückt werden. Trauern und Abschied nehmen kann ich nämlich nur, wenn ich den Schmerz des Verlusts zulasse. Das gilt im persönlichen Leben. Das gilt auch im Leben unserer kirchlichen Gemeinschaften. Wo ich etwas loslasse, werden meine Hände frei für Neues. Dass dies immer schmerzfrei zuginge, hat Christus uns nicht versprochen. Die Gnade der kirchlichen Erneuerung wird eine schmerzliche Gnade sein. Der von uns erhoffte Zugewinn an kirchlichem Leben wird nicht billig zu haben sein.

Dennoch bleibt die Frage, ob wir das grundlegende Vertrauen bewahren, dass Gott es gut mit seiner Kirche meint und uns trotz, nein: in allem, was geschieht, das Heil näher kommt, wie Paulus es formuliert hat (Röm 13,11).

2. Kirche, die im Auftrag steht

Indem das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche als »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (Kirchenkonstitution »Lumen Gentium«, Nr. 1) definierte, hat es noch einmal klar gestellt, dass die Kirche kein Selbstzweck ist. Kirche ist dienende Kirche oder sie ist nicht. Das hat uns deutschen Bischöfen unser Vorsitzender, Erzbischof Zollitsch von Freiburg, auf der letzten Herbstvollversammlung in Fulda auch noch einmal ins Stammbuch geschrieben (Vgl. www.dbk.de).  Maßnahmen zu purem Selbsterhalt der Kirche oder zu bloßer Bestandssicherung wären verfehlt. Mitunter aber, das müssen wir selbstkritisch eingestehen, sieht es so aus, als ob wir vor allem damit beschäftigt wären zu halten, was noch zu halten ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich Stimmen erheben, die fragen, wozu die Kirche eigentlich gut ist und was sie in die Gesellschaft einzubringen hat. Lassen wir uns diese kritischen Fragen gefallen. Nehmen wir sie ernst, ja nehmen wir sie als Ruf dieser Zeit. Denn sie bieten uns die Chance, uns neu unseres Auftrags zu vergewissern. Sie können ein Weckruf sein, der ärgerlich und schmerzlich sein mag, aber uns auch herausreißen kann aus dem Kreisen um uns selbst.

Von Bolivien lernen: "Mission" als bleibender Auftrag

Auf der Suche nach einer Antwort können wir übrigens von unseren Partnerkirchen in Bolivien lernen. Sie verstehen sich ausdrücklich als Zeugen, die die Vision vom Reich Gottes in dieser Welt präsent halten und damit – ich habe es bereits in meinem Rückblick beschrieben – für ein Leben in Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden und Liebe einstehen. Das ist ihr Auftrag. In Bolivien, wie in ganz Lateinamerika, hat man übrigens keine Scheu, das Wort »Mission« in den Mund zu nehmen. Im Gegenteil: Zentraler Begriff der Pastoral ist die »misión permanente«. (Vgl. Aparecida 2007. Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, Nr 551 (Sekr. der Dt. Bischofskonferenz, Hg., in: Stimmen der Weltkirche 41, Bonn 2007.) Damit ist nicht bloß Mission im engen Sinn gemeint, sondern der bleibende und stets neue Auftrag Jesu an seine Kirche.

Dass die Bolivianer die »misión permanente« nicht nur als Auftrag im großen gesellschaftlichen Kontext verstehen, sondern auch in den konkreten Lebenszusammenhängen vor Ort, ist mir bei einem Gespräch in einer Stadtrandgemeinde von Santa Cruz deutlich geworden. Dort erzählte eine Studentin, dass sie mit einer Hand voll junger Leute in die Häuser gehen, sich vorstellen und die Menschen, die ihnen die Tür öffnen, fragen: »Was braucht ihr?« Je nach Antwort sind die jungen Leute selbst bereit, die erbetene Hilfe zu geben: Sie kann in einfachen Tipps bestehen, in Ratschlägen zu sozialen Fragen, bis hin zur Hausaufgabenhilfe. In ganz unspektakulärer, aber sehr eindrücklicher Weise wird hier eine Kirche sichtbar, die aus einem Auftrag, einer Sendung heraus lebt, in diesem Sinne eine dienende und zugleich missionarische Kirche ist.

Liebe Mitchristen, auf dem Weg in ein Neues Jahr möchte ich Ihnen diese missionarische Perspektive ans Herz legen. Fragen wir uns an den unterschiedlichen Orten, an denen wir Kirche in unserem Bistum leben, bewusster als bisher, worin konkret der Auftrag besteht, den Jesus Christus am jeweiligen Ort für uns bereit hält. Welcher Anruf tritt uns entgegen aus den Situationen und Menschen, mit denen uns Jesus in Berührung bringt?

Gemeinsamer Blick in die gleiche Richtung

Manch einer mag angesichts dieses Vorschlags zurückschrecken und fragen: Wie sollen wir das noch leisten über all das hinaus, was wir im Zusammengehen der Pfarreiengemeinschaften im nächsten Jahr zu bewältigen haben? Ist das nicht definitiv eine Überlastung? Liebe Schwestern und Brüder, ich bin der Überzeugung, dass die Frage nach unserem Auftrag nicht zwangsläufig eine Überforderung darstellt, die uns von den anstehenden Aufgaben abhält. Ich glaube eher im Gegenteil, dass diese Perspektive zusammenführt. Denn was A. de Saint-Exupéry für die Liebe sagt, das gilt auch für die Kirche: »Liebe heißt, gemeinsam in eine Richtung zu schauen«. Kirche sein heißt, gemeinsam in eine Richtung zu schauen. Als Kirche schauen wir zuerst und vor allem auf Jesus Christus. Dazu gehört aber auch, dass wir Ausschau halten nach dem Auftrag, den er für uns bestimmt hat und der sich je nach Zeit und Ort neu konkretisiert. Wenn wir uns gemeinsam ausrichten auf diesen Auftrag, führen unsere Wege wie von selbst zusammen. Gerade der Blick auf eine gemeinsame Aufgabe, das zeigt die Erfahrung, kann befreien aus einer ängstlich-verkrampften Fixierung auf das Gegenüber, mag dieses Gegenüber eine benachbarte Pfarreiengemeinschaft sein, ein Amtsträger, ein Mitbruder oder ein Gremium ...

2011: Beginn des Jahres der geistlichen Vorbereitung auf die Wallfahrt 2012

Und schließlich, liebe Mitchristen, bin ich froh, dass wir für unser Bistum als ganzes neben den Herausforderungen in der Umsetzung des Strukturplans 2020 und der Kostensenkung das gemeinsame Glaubensprojekt »Heilig-Rock-Wallfahrt 2012« haben. Hier ist der Auftrag klar: Wir wollen den Menschen unserer Zeit Jesus Christus bezeugen als Heiland und Erlöser. Das geistliche Vorbereitungsjahr wird mit dem Heilig-Rock-Fest am kommenden 6. Mai beginnen. Das Jahr soll uns helfen, das Ereignis der Wallfahrt nicht nur als Aufgabe einiger weniger Beauftragter hier in Trier zu verstehen, sondern als gemeinsamen Auftrag des ganzen Bistums. Aus der Erfahrung der großen Wallfahrt von 1996 dürfen wir hoffen, dass auch die kommende Wallfahrt von sich aus eine gemeinschaftsstärkende Kraft enfaltet, die in unserem Bistum (und vielleicht auch darüber hinaus) Menschen und Dinge zusammenführt, die bisher unverbunden nebeneinander stehen oder gar getrennt sind.

Christus anziehen

Liebe Schwestern und Brüder! Der letzte Satz der Lesung, die wir gehört haben, bezeugt, dass schon für Paulus das Gewand ein ausdrucksstarkes Symbol für Jesus Christus war. »Legt als neues Gewand den Herrn Jesus Christus an«, schreibt er den Christen in Rom (Röm 13,14a). Christliche Existenz ist nicht nur ein Weg auf Christus zu, sondern immer auch ein Weg mit Jesus Christus. Er umgibt wie ein Gewand den Glaubenden mit seiner liebenden Gegenwart. Beten wir darum, dass unser Weg durch das Jahr 2011 ein von Jesu Gegenwart gesegneter Weg sei. Amen

Weiteres:

"Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf"

in der Predigt