(Schriftlesungen: Jes 9,1-6/ Tit 2,11-14/ Lk 2,1-14)
Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
liebe Mitfeiernde!
Jedes Jahr wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache ein „Wort des Jahres“ aus. Im letzten Jahr hieß das Wort „Stresstest“, im Jahr davor „Wutbürger“. Für 2012 haben die Sprachforscher aus 2.200 eingereichten Begriffen das Wort „Rettungsroutine“ ausgewählt. Im Frühjahr hatte der Bundespolitiker Wolfgang Bosbach „eine Art Rettungsroutine“ beklagt, die sich bei den Hilfen für die Euro-Währung inzwischen eingestellt habe. In der Tat: Wie viele Rettungs-Schirme sind in den letzten Jahren schon aufgespannt und wieviele Rettungs-Pakete geschnürt worden! Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat ihre Wahl des Wortes „Rettungsroutine“ begründet mit der widersprüchlichen Bedeutung der beiden Wortbestandteile: Während Rettung im eigentlichen Sinn eine akute, einmalige und abgeschlossene Handlung bezeichnet, meint Routine einen wiederkehrenden, gar auf Dauer angelegten Vorgang.
Als ich kurz vor Weihnachten diese Zeitungsmeldung las, musste ich daran denken, dass „Rettung“ auch ein Schlüsselbegriff der weihnachtlichen Botschaft ist. Zu Beginn unserer Mette haben wir schon im Lied „Stille Nacht“ gesungen: „Christ, der Retter ist da!“ Dieser Liedtext kann sich sogar berufen auf die Botschaft des Engels, der den Hirten auf den Fluren von Bethlehem verkündet: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr“ (Lk 2,11).
Jedes Jahr hören wir in der Heiligen Nacht diese Botschaft und singen selbst immer wieder „Christ, der Retter ist da!“ Ist das nicht auch längst eine Routine? So eine Art weihnachtliche „Rettungsroutine“? Und haben nicht die Sprachforscher Recht, wenn sie von einem inneren Widerspruch sprechen, der sich da auftut. Spüren wir diesen Widerspruch nicht auch bei dem, was wir an Weihnachten tun? Wenn wir mit Rettung normalerweise einen einmaligen, wirksamen Vorgang meinen, dann stellt sich die Frage, wie es um den Retter steht, der vor 2.000 Jahren geboren wurde, nicht als irgendein Retter unter vielen, sondern als der Retter der Welt. Das ist ja der Anspruch, den die Weihnachtsbotschaft beinhaltet. Um nichts Geringeres geht es als um die Rettung der ganzen Welt! Hat Jesus das bewirkt? Hat er diesen Ehrentitel verdient?
Die Welt sieht wahrhaftig nicht so aus, als sei sie schon wirksam gerettet. Dann wären ja alle Rettungsmaßnahmen längst überflüssig. Augenscheinlich ist das Gegenteil der Fall. Stattdessen fragen wir uns immer häufiger: Sind wir eigentlich noch zu retten – politisch, sozial, ökologisch? Wir brauchen in unserem Land nur auf die Bevölkerungsentwicklung zu schauen, dann müssen wir noch zugespitzter fragen: Sind wir nicht sogar am Aussterben? Ähnliche Fragen wie wir sie der Gesellschaft stellen, kann man natürlich auch an die Kirche richten. Doch wir singen: „Christ, der Retter ist da!“ Ist das ein Wunschtraum aus den Kindertagen der Kirche und aus den Anfängen unserer europäischen Zivilisation, der längst widerlegt, längst zerplatzt ist und an dem wir aus purer Nostalgie festhalten?
Liebe Schwestern und Brüder, es wird Sie nicht überraschen, dass ich dieser rhetorischen Frage nicht einfach zustimme! Ja, es ist richtig: Wer mit halbwegs offenen Augen durchs Leben geht, der sieht, dass diese Welt nicht in dem Sinn gerettet ist, dass Gott sie bereits in ein zweites Paradies verwandelt hätte. Das haben aber selbst die frühen Christen nicht behauptet. Denken wir nur an den Apostel Paulus, der der Christengemeinde in Rom schreibt: Ja, „wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung“ (Röm 8,24). Papst Benedikt, der in einer seiner Enzykliken diesen Satz des Paulus auslegt, gibt offen zu: „Die ‚Erlösung’, das Heil ist nach christlichem Glauben nicht einfach da. Erlösung ist uns in der Weise gegeben, dass uns Hoffnung geschenkt wurde, eine verlässliche Hoffnung“ (Spe Salvi, 1).
Wenn wir das Wort von der Rettung so verstehen, dann können wir sagen: Die Hoffnung auf Rettung, die uns Christen erfüllt, ist durch die Geschichte bis heute noch nicht widerlegt worden. Dass Gott in jener Nacht von Bethlehem, in der Geburt des göttlichen Kindes seinen Rettungsanker für diese Erde ausgeworfen hat, ist nicht widerlegt. Und es gilt umgekehrt: Wie viele, angefangen von den Hirten, haben dem Wort des Engels geglaubt, und sind nicht enttäuscht worden. Wie viele haben seitdem der Botschaft geglaubt, dass Gott diese Welt, unsere Welt – trotz allem – nicht aufgegeben hat, sondern sich mit ihr noch enger verbunden, ja sich unwiderruflich an diese Welt gebunden hat, indem er selbst in Jesus Christus Mensch wurde unter uns Menschen.
Das ist mit der Rettung gemeint, die wir an Weihnachten besingen: Wir Menschen sind beileibe noch nicht aus allen Abgründen und Dunkelheiten befreit, in die wir hineingeraten sind. Aber das „Rettungsseil“ ist von Gott her schon ein für allemal ausgeworfen. Wir können es ergreifen. Das Weihnachtsfest lädt dazu ein. Ungezählte haben das vor uns schon im Glauben getan und haben dadurch für ihr Leben einen Halt gefunden, den sie selbst und andere Menschen ihnen nicht hätten geben können. All das spricht dafür, dass der Engel damals nicht gelogen hat, dass der Engelgesang kein Sirenengesang war.
Wenn wir die Wahrheit des Wortes von der Rettung auch nicht mathematisch beweisen können, wenn für jeden normalen Verstand zu sehen ist, wieviel Unerlöstes es noch in unserer Welt gibt, so ist die Botschaft von Weihnachten doch keinesfalls widerlegt, ist sie kein bloß nostalgischer Traum, ist sie kein Märchen, das zwar tröstlich, aber leider frei erfunden ist.
Vor Jahren hat mir ein im spirituellen Leben erfahrener Ordensmann (W. Lambert SJ) folgendes Erlebnis erzählt: Ein Frau beobachtete an einem Fluss einen etwa siebenjährigen Jungen, der von einer Brücke aus angelte. Die selbstgefertigte Angel bestand aus einem Stab und zwei roten Schnürsenkeln, die zusammengebunden waren. Kein Haken dran, kein Köder und das Ende der Angelschnur ein paar Meter frei über dem Wasser baumelnd. Die Frau fragte den Jungen: „Und damit willst du etwas fangen??!“ Die prompte Antwort: „Ich tu so, als ob es ginge!“ (Die Geschichte findet sich auch in der Arbeitshilfe 185 der Deutschen Bischofskonferenz: „Der pastorale Dienst in einer Zeit der Aussaat“, Bonn 2004, 149)
Liebe Schwestern und Brüder, das heißt glauben: Darauf vertrauen, dass es geht; so tun, als ob es ginge, und dann im Tun erfahren, dass es geht. Auf diese Weise zeigt sich die Wahrheit der Weihnachtsbotschaft. Und bedenken wir schließlich noch eines: Es ist Gott, der große Menschenfischer, der seine Angel nach uns ausgeworfen hat. Er ist immer noch der Meinung, dass es geht – mit uns, dass wir seine rettende Schnur ergreifen. Er gibt die Hoffnung nicht auf. Denn er ist der Retter. Und bei ihm gibt es keine geistlose Routine. Amen.