Gottes Wahrheit ist für jeden Menschen lebenswichtig – mehr noch als die Kenntnis der Differential- und Integralrechnung

Predigt von Bischof Stephan Ackermann an Pfingsten, 27. Mai 2012 im Trierer Dom

Schriftlesungen: Apg 2,1-11/ 1 Kor 12,3b-7.12-13/ Joh 15,26-27; 16,12-15)


Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Mit dem Pfingstfest endet nicht nur die 50-tägige österliche Festzeit, sondern in gewisser Weise markiert Pfingsten auch den Schlusspunkt der starken, der geprägten Zeiten des Kirchenjahres insgesamt. In diesen Zeiten feiern und betrachten wir in besonderer Weise immer wieder das Leben Jesu: Seine Geburt als Mensch unter uns Menschen; sein öffentliches Wirken, beginnend mit der Taufe im Jordan; das Staunen der Menschen, die die Zeichen und Wunder Jesu sehen. Wir erleben den Zuspruch, den Jesus erfährt, aber wir nehmen auch die wachsende Ablehnung wahr, die Jesus durch die religiösen Autoritäten seines Volkes entgegenschlägt. Sie führt schließlich zu seinem Prozess, seiner Hinrichtung und zu seinem Tod. Dann aber geschieht das, was von Jesus zwar vorhergesagt war und doch völlig unerwartet, ja unglaublich ist: Der am Kreuz Unterlegene siegt auf seine Weise, indem er nicht vom Tod festgehalten wird, sondern - auferweckt durch die Macht Gottes, des Vaters - sich in ganz neuer Lebendigkeit zeigt. Immer neu schreiten wir zwischen Weihnachten und Pfingsten diesen Lebensbogen des irdischen Wirkens Jesu ab, damit wir ihn nicht vergessen, mehr noch: damit wir ihn immer tiefer verstehen.

Mit der Himmelfahrt Jesu und mit Pfingsten beginnt die Zeit der Kirche, beginnt die Zeit der Zeugen für Jesus und seine Botschaft. So hat es Jesus selbst den Aposteln angekündigt: »Wenn der Beistand kommt, ... der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. Und auch ihr sollt Zeugnis ablegen, weil ihr von Anfang an bei mir seid« (Joh 15,26f).

Wie aber geht das: Zeuge sein? Was zeichnet einen Zeugen Jesu Christi aus? Diese Frage stellte sich nicht nur für die Apostel und Augenzeugen des Wirkens Jesu. Im Gegenteil: Für sie scheint dieser Auftrag einfach und klar. Die Frage nach dem Zeugesein stellt sich aber in ganz besonderer Weise für alle, die nach den Ur- und Augenzeugen kommen. Auch sie sollen ja Zeugen Jesu Christi sein. Sie können es aber nicht so sein wie die Zwölf. Für sie, das heißt: für uns gilt gerade nicht das, was Jesus zu den Zwölf sagt: »Ihr seid von Anfang an bei mir gewesen« (Joh 15,27). Wie also sollen wir dann Zeugen sein?

Das innerste Geheimnis des eigenen Lebens

Vor kurzem bin ich auf eine Beschreibung gestoßen, die Kardinal Suhard gegeben hat. Er war in den 1940er Jahren Erzbischof von Paris. Er sagt: »Zeuge zu sein besteht nicht darin, Propaganda zu treiben, ja nicht einmal darin, Menschen aufzurütteln, sondern darin, ein lebendiges Geheimnis zu sein. Es bedeutet, so zu leben, dass das eigene Leben keinen Sinn machen würde, wenn Gott nicht existierte.«

Mit dieser Definition bringt Kardinal Suhard das Lebensgefühl der frühen Christen, angefangen von den Aposteln, auf den Punkt. Aus diesem Lebensgefühl heraus antworten Petrus und Johannes, als sie vor dem Hohen Rat wegen der Heilung eines Gelähmten verhört werden: »Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben« (Apg 4,20). Oder denken wir an Paulus, der im Philipperbrief schreibt: »Mein Leben ist Christus«, ihn schätze ich höher ein als mein rein physisches Leben, deshalb wäre Sterben mir ein Gewinn (Phil 1,21). Nur aus dieser Haltung heraus ist es zu verstehen, wenn Christen in Situationen der Verfolgung (bis heute) lieber das Martyrium auf sich nehmen, als sich von ihrem Glauben loszusagen. Denn dies würde bedeuten, sich selbst, das heißt: das innerste Geheimnis des eigenen Lebens, zu verleugnen. Das Leben hätte seinen Sinn verloren, auch wenn es äußerlich gerettet wäre.

Wie leben wir als christlicher Zeuge?

Wir dürfen dankbar dafür sein, dass wir nicht in die Extremsituation des Martyriums gestellt sind. Doch die Definition des Zeugen, die Kardinal Suhard gibt, ist auch für uns gültig: »Zeuge zu sein besteht nicht darin, Propaganda zu treiben, ja nicht einmal darin, Menschen aufzurütteln.«

Zunächst einmal ist diese Beschreibung entlastend, denn sie verlangt von uns nichts Heroisches. Die Definition verlangt etwas ganz Schlichtes: »so zu leben, dass das eigene Leben keinen Sinn machen würde, wenn Gott nicht existierte.« Von einem lautstarken Zeugnis ist keine Rede und auch nichts von Öffentlichkeitswirksamkeit ... Und doch ahnen wir, dass in der Schlichtheit dieser Definition zugleich das Anspruchsvollste enthalten ist. In ihr ist das entscheidend Christliche auf den Punkt gebracht. Wenn also das Evangelium davon berichtet, wie Jesus die Jünger zu seinen Zeugen bestellt, dann richtet es zugleich die Frage vor uns auf: »Wie leben wir?« Denn es ist klar: In dem Maß, in dem jemand als christlicher Zeuge lebt, braucht er keine Propaganda zu betreiben, braucht er andere nicht mit Worten wachzurütteln. Seine bloße Existenz ist geheimnisvoll, macht Menschen neugierig und provoziert zum Nachfragen.

Was bedeuten uns fundamentale Glaubenswahrheiten?

Wie oft beklagen wir heute, dass vielen Menschen der christliche Glaube fremd geworden ist; selbst unter denen, die getauft und gefirmt und zur Erstkommunion geführt wurden und in der Schule jahrelang am Religionsunterricht teilgenommen haben. Auch von ihnen sind selbst die fundamentalsten Glaubenswahrheiten oft nicht mehr gewusst. Aber was bedeuten auch elementarste Glaubenswahrheiten, wenn sie im alltäglichen Leben keine Rolle spielen? Was bedeutet es, wenn wir sagen, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, um uns zu erlösen und uns ewiges Leben zu schenken? »Ja und?«, mag mancher fragen, wenn er nicht Menschen begegnet, denen man anmerkt, dass dieser Satz ihr Leben prägt; dass sie in ihrer Art zu leben nicht verstanden werden können ohne den Glauben.

Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie mich das Gemeinte noch von einer anderen Seite her illustrieren: Ich erinnere mich, dass ich mich während der Oberstufe meiner Gymnasialzeit in Mathematik mit der sog. Differential- und Integralrechnung beschäftigen musste. Diese Rechenarten werden dazu benutzt, um Flächen und Volumen von Körpern zu berechnen. Nach bestandenem Abitur bin ich diesem Thema nie mehr begegnet. In meinem konkreten Lebensalltag als Student, als Priester, als Bischof hat es keine Rolle mehr gespielt. Was ich einmal gelernt hatte, habe ich unterwegs schlicht vergessen. Ich habe es weder aus bewusster Entscheidung, noch aus bösem Willen getan, und doch: Selbst unter Folter würde man heute nichts mehr zu diesem Thema aus mir herausbringen. Ähnlich, so denke ich, ergeht es Menschen, die zwar in der Katechese und im Religionsunterricht Wahrheiten des Glaubens gelernt haben, diese aber für ihr weiteres Leben nicht mehr von Bedeutung waren.

Natürlich, jeder trägt für seinen Glauben selbst Verantwortung. Doch auch wir dürfen uns nicht vorschnell aus unserer Verantwortung herausstehlen. Denn wir sind ja der Überzeugung, dass die Wahrheit Gottes lebenswichtige Wahrheit ist für jeden Menschen – mehr noch als die Kenntnis der Differential- und Integralrechnung! Lassen wir uns also an Pfingsten, an diesem Urdatum christlicher Zeugenschaft, durch das Beispiel der ersten Zeugen dazu anfeuern, so zu leben, dass man auch uns mehr als Zeugen Jesu Christi erkennt. Das heißt: Wir sollen so leben, dass das eigene Leben keinen Sinn machen würde, wenn Gott nicht existierte.

Die Wallfahrt - Zeugnis des Glaubens

Liebe Schwestern und Brüder, hier in Trier durften wir dieses Jahr schon vor dem liturgischen Pfingstfest etwas von Pfingsten erleben: Ich denke an unsere Heilig-Rock-Wallfahrt, die heute vor zwei Wochen zu Ende ging. In ihr durften wir Pfingsten erleben, nicht nur weil Pilgerinnen und Pilger von allen Kontinenten, von unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Nationalitäten, Konfessionen und Spiritualitäten kamen, sondern weil diejenigen, die kamen - aber gerade auch die vielen engagierten Helferinnen und Helfer der Wallfahrt - etwas vom Geheimnis ihres Lebens haben sichtbar werden lassen. Sie haben sich nicht geschämt, mit dem Dienst, den sie übernommen haben, sich zu Jesus Christus und seiner Kirche zu bekennen und damit zu zeigen, was der Glaube für ihr Leben bedeutet. Für dieses Zeugnis brauchte es keine große Propaganda, keine aufrüttelnden Reden, sondern die bloße Gastfreundlichkeit, die unaufdringliche Zuwendung, ein aufmerksames Hinhören und eine ehrliche Antwort oder eine schlichte Geste der Unterstützung ... Durch viele Rückmeldungen habe ich erfahren, dass dieses Zeugnis seine Wirkung nicht verfehlt hat: Menschen wurden neugierig auf die christliche Botschaft, andere waren positiv irritiert, nicht wenige wurden wirklich bestärkt für ihren eigenen Glauben.

An Pfingsten blitzt auf, was möglich ist, wenn Menschen sich dem Geist Jesu öffnen: Was in Babel zerstreut und getrennt wurde, findet zusammen. Pfingsten in Jerusalem um das Jahr 33 ist einzigartig, selbstverständlich, aber es ist längst nicht abgeschlossen. Das ist für die Kirche im Jahr 2012 Verheißung und Auftrag zugleich. Amen, halleluja.

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Gottes Wahrheit ist für jeden Menschen lebenswichtig

in der Predigt