Schriftlesungen: Gen 1,1-2,2/Ex 14,15-15,1/Bar 3,9-15.32-4,4/Ez 36,16-17a.18-28/Röm 6,3-11/Mt 28,1-10
Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
Schwestern und Brüder im Glauben!
Die Liturgie der Osternacht hatte so harmonisch begonnen, fast heimelig: das Licht der Osterkerze, das sich über die vielen Kerzen in unseren Händen in den ganzen Dom ausgebreitet hat. Dann die wunderbare Poesie des Exsultet, des gesungenen Osterlobs. Und dann die nicht weniger kunstvoll komponierte Erzählung über die Erschaffung der Welt aus dem Buch Genesis. Mich berührt jedes Jahr neu die beruhigende Monotonie dieser ersten Verse der Hl. Schrift. Wie ein Refrain heißt es immer wieder: »Es wurde Abend, und es wurde Morgen: erster Tag ... Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag usw.« Abgeschlossen wird das ganze durch die Begutachtung, die Gott am Ende selbst vornimmt: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.« (Gen 1,31) Bestätigen diese Worte nicht das, was wir selbst in den glücklichsten Momenten spüren: Die Welt und das Leben, sie sind ein wunderbares Geschenk, über das man eigentlich nicht genug staunen kann.
Doch dann folgte die zweite Lesung. Szenenwechsel: Die Israeliten auf der Flucht vor den Ägyptern am Roten Meer: Schlachtengetümmel, Grausamkeit, Sieg für die einen, tödliche Niederlage für die anderen, die in die Falle geraten ... Bilder, wie wir sie auch kennen, zu gut kennen aus den Nachrichten. »Gibt es denn nicht einen Tag, eine (heilige) Nacht wenigstens ohne die Bilder von Gewalt und Tod?«, so mag man fragen. Haben wir nicht gerade von Nordafrika und dem Mittleren Osten in den letzten Wochen und Monaten schon genug davon gesehen, wie gewalttätige Machthaber den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung unterdrücken?! Denken wir an Syrien, den Jemen und vor allem Libyen. Immerhin haben es die Ägypter geschafft, weitgehend friedlich den aus dem Amt zu vertreiben, den sie selbst den »Pharao« nannten, Hosni Mubarak. Und auch seine Villenanlage in Sharm el Sheikh am Roten Meer bot ihm und seiner Familie keine sichere Zuflucht mehr. Also: Bilder von Gewalt und Unterdrückung kennen wir zur Genüge. Braucht es die auch in der besinnlichen Atmosphäre dieser Nacht?
Ausgerechnet von dieser Lesung heißt es darüber hinaus in den liturgischen Anweisungen: Sie darf nie ausfallen. Unter den vorgeschlagenen sieben Lesungen aus dem AT kann man eine Auswahl treffen. Doch der Durchzug durch das Rote Meer muss immer vorgetragen werden. Warum?
Die erste Antwort lautet: Weil es zum Wesen des christlichen Gottesdienstes gehört, die Realität nicht auszublenden. Christliche Spiritualität träumt sich nicht von der Erde weg, ist keine Spiritualität der »geschlossenen Augen« (Johann B. Metz), die darauf hofft, dass die Erde mit all ihren Problemen unter uns versinkt. Nein, christliche Spiritualität ist eine Spiritualität der »offenen Augen«. Dies könnte in der Tat ein Grund dafür sein, in der Osternacht diese Lesung zu hören und in ihr ein exemplarisches Bild zu sehen für alle, die unter Angst und Unterdrückung leiden; für die, die keinen Ausweg sehen und auf Rettung hoffen. Die Lesung ist mahnende Erinnerung an die Gewalt, die auch heute noch, auch in dieser Nacht zwischen Menschen geschieht ... Das alles sind ernste Gründe dafür, die Poesie und den Gesang dieser Nacht stören zu lassen.
Doch das allein würde nicht reichen. Die Gründe liegen tiefer. Sie sind im Selbstverständnis der Kirche verankert. Die Kirche sieht sich nämlich in der Nachfolge des alttestamentlichen Gottesvolkes. Wir haben es im Osterlob gehört, als der Diakon die Osternacht besungen hat als die Nacht, die »unsere Väter, die Söhne Israels aus Ägypten befreit und auf trockenem Pfad durch die Fluten des Roten Meeres geführt hat.« Im Glauben sind die Juden unsere Väter, unsere »älteren Brüder«, wie P. Johannes Paul II. es formuliert hat. In der Gotteserfahrung Israels liegt unsere Wurzel, und zu dieser Wurzel gehört unaufgebbar die Befreiung aus der Knechtschaft des Sklavenhauses Ägypten. Es ist das »Urdatum« des alttestamentlichen Gottesvolkes. Bis heute wird in jeder jüdischen Pessachfeier daran erinnert. Auch für unser christliches Gottesbild ist Gott nicht nur der Schöpfer, sondern derjenige, der beruft, der erwählt und der rettet.
Aber damit ist christlich die existenzielle Symbolik der Erzählung vom Durchzug durch das Rote Meer noch nicht erschöpft: Wenn ich gleich das Taufwasser segnen werde, dann wird in den Worten des Segensgebetes noch einmal angespielt auf das Geschehen am Roten Meer. Denn da heißt es: »Als die Kinder Abrahams, aus Pharaos Knechtschaft befreit, trockenen Fußes das Rote Meer durchschritten, da waren sie ein Bild deiner Gläubigen, die durch das Wasser der Taufe aus der Knechtschaft des Bösen befreit sind.« Die Taufe, liebe Schwestern und Brüder, meint ja im eigentlichen Sinn des Wortes nicht bloß das Übergießen mit etwas Wasser zu Reinigungszwecken, sondern ein wirkliches Untertauchen – grob gesprochen: ein Ersäufen – des alten Menschen, der gefesselt ist durch die Sünde, der »unter der Knechtschaft des Bösen« steht. Die Taufe will befreien zur Freiheit der Kinder Gottes. Dabei geht es nicht um die Befreiung von einer äußerlich-physischen Bedrohung, sondern um die Befreiung von der inneren Bedrohung durch das sündige An-mich-selbst-Gefesseltsein. Der innere Feind soll besiegt werden. Der Feind in mir soll untergehen, damit ich zu einem befreiten Leben fähig werde.
Man würde die Taufe allerdings missverstehen, wenn man in ihr bloß einen moralischen Entschluss sehen würde, der mit einem religiösen Ritus bekräftigt wird (»Hiermit verspreche ich, ein gutes Leben zu führen und erbitte dazu Gottes Segen!«) Das würde nicht reichen. Die Glaubenserfahrung des gesamten Alten Testamentes zeigt es: Wie oft hat Israel versprochen, sich an die guten und gerechten Weisungen Gottes zu halten. Wie oft hat es die wunderbare Weisheit des göttlichen Gesetzes besungen (Denken wir an die dritte Lesung aus dem Propheten Baruch, in der es hieß: »Glücklich sind wir, das Volk Israel; denn wir wissen, was Gott gefällt«: 4,4), und doch wurde Israel immer wieder schwach und untreu, verließ den »Quell der Weisheit« (Bar 3,12). Wir Menschen sind so.
Um uns wirklich zu befreien, braucht es den, der wirklich frei ist, nicht gefesselt an sich selbst, sondern ganz frei aus der Freiheit Gottes selbst heraus: der Sohn Gottes. Er ist den Weg der Freiheit gegangen - doch nicht auf Kosten anderer. Er ist nicht der Sieger, der »am Strand« seines Wirkens Opfer und Verlierer zurücklässt. Im Gegenteil: Er war frei und bereit, selbst Opfer zu werden. So und nur so ist er am Ende Sieger geworden. Die Wogen des Todes sind über ihm zusammengeschlagen. Er hat sich ihnen ausgeliefert. Er wurde nicht bewahrt wie einst am Roten Meer die »Kinder Abrahams«. Er hat den Tod erlitten.
Auf Jesus Christus getauft zu sein, heißt, auf seinen Tod getauft zu sein (Röm 6,3). Das heißt zugleich: Eingetaucht zu werden in seine Weise zu leben. Es heißt, sich von ihm an der Hand nehmen zu lassen. Wichtiger als mit Jesus über das Wasser zu gehen (Mt 14,22-33), ist es, mit ihm durch die Wogen des Lebens zu gehen, seine Hand und Nähe zu spüren, wenn uns persönlich das Wasser bis zum Hals steht und wir keinen rechten Weg sehen. Noch einmal: Christsein ist keine Anleitung zum Moralismus. Der Weg des Christen besteht zuerst und vor allem darin, in persönlicher Verbundenheit mit Jesus Christus den Weg des Lebens zu gehen in der festen Überzeugung,
Im Evangelium dieser Nacht ist es Jesus selbst, der den Frauen sagt: »Fürchtet euch nicht! Geht und sagt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa gehen, und dort werden sie mich sehen.« Immer noch geht er voraus in das Galiläa auch unseres Lebens. Dort können wir ihn sehen. Amen, Halleluja!