Lieber Mitbruder Mons. Jean-Louis, lieber Rektor Jacquot,
liebe Schwestern und Brüder!
Ich danke Ihnen, dass Sie mich zu dieser traditionsreichen Prozession eingeladen haben. Es ist mir eine Ehre und Freude daran teilzunehmen und in der Homilie das Wort an Sie richten zu können. Auf diese Weise leuchtet auch noch einmal die starke Beziehung auf, die die Bistümer Trier und Toul mehr als 1.400 Jahre miteinander verbunden hat. Bis heute wird im Bistum Trier des heiligen Pierre Fourier gedacht, der im 16. und 17. Jahrhundert im Gebiet der früheren Diözese Toul als Priester und Sozialreformer wirkte. Es war ihm ein Herzensanliegen, dass alle Kinder – gleich welcher Herkunft – Zugang zu Schule und Bildung bekamen. Chancengerechtigkeit ist ein bis heute aktuelles Thema! Ich freue mich auch, dass ich nicht alleine gekommen bin, sondern 50 Pilgerinnen und Pilger aus dem Bistum Trier ebenfalls heute Abend hier sind.
Das Jahr, das sich seinem Ende zuneigt, war ein Jahr, in dem wir gerade in der Grenzregion unserer Länder Frankreich und Deutschland den Blick über die Grenze hinweg gerichtet haben. Man könnte sogar sagen, dass das Jahr 2014 in besonderer Weise ein europäisches Jahr war. Dies lag nicht nur daran, dass in diesem Jahr wieder die Wahlen zum europäischen Parlament stattgefunden haben. Es lag vor allem daran, dass wir uns an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert haben. Ein schmerzliches Datum, aber 100 Jahre später auch ein Anlass zur Dankbarkeit für die Versöhnung und die Freundschaft, die in den letzten Jahrzehnten zwischen unseren Völkern gewachsen ist. Sie muss umso größer sein, da nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts die noch schlimmeren Verheerungen des Zweiten Weltkriegs folgten. Dank der europäischen Einigung und der Idee vom „Europa der Regionen“ finden die Räume wieder zueinander, die schon in früheren Jahrhunderten enge Verbindungen miteinander pflegten. Nicht umsonst sprechen wir von der Großregion Saar-Lor-Lux. Dass es über Jahrhunderte diese gemeinsamen Lebensräume gab, die die heutigen nationalen Grenzen überschreiten, war nicht zuletzt auch eine Frucht des christlichen Glaubens und des kirchlichen Lebens.
Umso erschütternder ist es, dass es vor 100 Jahren mit dem Ersten Weltkrieg zu einem solchen Ausbruch von Hass und Gewalt kam. Bei den vielen Dokumentationen und Gedenkveranstaltungen der letzten Monate musste ich immer wieder daran denken, dass doch die übergroße Mehrzahl derjenigen, die vier Jahre lang unerbittlich Krieg gegeneinander führten, Christen waren! Wie konnte das geschehen? Ist denn über die Jahrhunderte der christlichen Geschichte Europas der Glaube bloß an der Oberfläche geblieben? Hat etwa keine wirkliche Bekehrung der Herzen stattgefunden? Was ist dann mit all den großartigen Zeugnissen des Glaubens in unserer Kultur und Architektur? Ist nicht diese wunderbare Basilika auch ein Beweis für die Kraft des Glaubens auf unserem Kontinent? War nicht der Glaube in früheren Zeiten noch viel lebendiger und stärker als heute?
Oder sollte am Ende doch der frühere Erzbischof von Paris, Kardinal Jean-Marie Lustiger, Recht haben, der gesagt hat: „Das Christentum steckt bei uns noch in den Kinderschuhen. Seine große Zeit liegt noch vor uns!“ Wie stark die Kraft des Glaubens werden kann, wenn sie ernst genommen wird, das haben die Gründerväter Europas gezeigt. Denken wir an Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer. Sie haben sich bewusst auch aus christlichem Geist heraus eingesetzt für ein erneuertes Europa. Und dieses Europa kommt allen Menschen zugute – unabhängig von ihrer Religion oder Konfession.
Papst Franziskus hat erst vor wenigen Tagen bei seinem Besuch im europäischen Parlament den Abgeordneten die Frage gestellt, wie „das große Ideal eines vereinten und friedvollen, kreativen und unternehmungsfreudigen Europas“ neu verlebendigt werden kann (Ansprache an das Europaparlament am 25.11.2014 in Straßburg). Für seine Antwort griff der Papst auf ein Bild zurück, das sich im Vatikan befindet. Es ist ein Fresko von Raffael. Es zeigt die sogenannte Schule von Athen. In ihrem Mittelpunkt stehen die Philosophen Platon und Aristoteles. Der erste deutet mit dem Finger nach oben, zur Welt der Ideen, zum Himmel; der zweite streckt die Hand nach vorne, auf den Betrachter zu, zur Erde, zur konkreten Wirklichkeit. „Das scheint mir ein Bild zu sein“, so der Papst, „das Europa und seine Geschichte gut beschreibt, die aus der fortwährenden Begegnung zwischen Himmel und Erde besteht, wobei der Himmel die Öffnung zum Transzendenten, zu Gott beschreibt, die den europäischen Menschen immer gekennzeichnet hat, und die Erde seine praktische und konkrete Fähigkeit darstellt, die Situationen und Probleme anzugehen.“
Der Papst ist der Überzeugung, dass die Zukunft Europas von der Wiederentdeckung dieser beiden Elemente abhängt, die nicht voneinander getrennt werden dürfen. Ein Europa, das nicht offen ist für die Dimension des Göttlichen, gerät in Gefahr, seine Seele zu verlieren. Freilich dürfen wir auch nicht den Blick verlieren für den Menschen in seiner ganz konkreten Situation, mag er nun gebildet sein oder einfach, gesund oder krank, stark oder schwach, Einheimischer oder Flüchtling … Denn die Spiritualität des Christentums ist eine Spiritualität der „offenen Augen“: offen für Gott und offen für die Menschen. Nur so kann der Mensch in seiner Würde geschützt werden. Was passiert, wenn Menschen sich Gott gegenüber verschließen, indem sie sich selbst an die Stelle Gottes setzen, das haben die grausamen Ideologien des letzten Jahrhunderts gezeigt. Was passiert, wenn Menschen gegenüber den konkreten Nöten ihrer Mitmenschen blind sind, das sehen wir jeden Tag in den Nachrichten.
Liebe Schwestern und Brüder, wir werden gleich in der Litanei den heiligen Nikolaus um seine Hilfe und Fürsprache anrufen. Damit zeigen wir, dass der heilige Nikolaus nicht nur ein Heiliger für Kinder ist. Er ist ein Heiliger auch für uns Erwachsene, denn in seinem Leben war beides verbunden: die Offenheit für Gott und das offene Herz für die Menschen. Deshalb geht bis heute von ihm – so wie vom heiligen Martin – eine ungebrochene Faszination aus. Wer Gott in seinem Leben groß sein lässt und den anderen Menschen, der wird selbst groß.
Wenn wir nun mit den Kerzen in unseren Händen die Prozession beginnen, dann soll sie ein starkes Bekenntnis unseres Glaubens an die Gegenwart Gottes sein. Zugleich wollen wir in Gottes Gegenwart die konkreten Anliegen und Sorgen der Menschen unserer Zeit hineinrufen. Damit gehen wir in den Spuren des heiligen Nikolaus. Amen