Wahrheit auf dem Weg

Predigt in der Osternacht 2010 im Trierer Dom

Schriftlesungen: Gen 1,1-2,2 / Ex 14,15-15,1 / Jes 55,1-11 / Ez 36,16-17a.18-28 / Röm 6,3-11 / Lk 24,1-12

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder!

Ist es nicht wohltuend, in unserer so kurzatmigen und in diesen Wochen für die Kirche so aufwühlenden Zeit die Schriftlesungen der Osternacht zu hören! Jahr für Jahr hören wir diese Texte, die zum Teil nahezu 3.000 Jahre alt sind und doch nicht veralten. In ihnen wird der Bogen ganz weitgespannt: Angefangen vom ersten Schöpfungsmorgen bis hin zum Ostermorgen, dem Beginn der neuen Schöpfung ...

Von dem argentinischen Autor Jorge Bucay stammt der Satz: »Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen - Erwachsenen, damit sie aufwachen.« Dieser Satz hat sich mir eingeprägt. Er passt besonders zur Liturgie der Osternacht. Denn sie will ja eine Nacht der Wache, nicht eine Nacht zum Schlafen sein. Christen erwarten freudig den Anbruch des neuen, des »dritten Tages« - den Tag der Auferstehung. In der Tiefe geht es freilich nicht so sehr um ein Wachen im physischen, im wörtlichen Sinn. Vielmehr geht es darum, seelisch wach zu bleiben bzw. neu wach zu werden. In diesem Sinn erzählt uns die Osternacht Geschichten zum Aufwachen.

Geschichten zum Aufwachen

Wenn das stimmt, liebe Schwestern und Brüder, wenn es ums »Aufwachen« geht, dann lässt das Rückschlüsse zu auf die Art der Geschichten, die uns in dieser Nacht erzählt werden. Es sind in der Tat keine Geschichten, die man mit bloß sachlichem Interesse einfach zur Kenntnis nehmen könnte. Es läuft keine Art biblischer »Dokumentarfilm« vor uns ab, der uns historisch genaue Rückblenden in die Geschichte der Menschheit und des biblischen Gottesvolkes bieten würde. Damit sage ich Ihnen nichts Neues. Wie oft ist aber schon um den Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen gestritten worden, ohne zu beachten, dass der eigentliche Wahrheitsgehalt nicht auf der rein historisch-sachlichen Ebene liegt. Die Erzählungen dieser Nacht wollen uns Wahrheiten bieten, die auf einer anderen Ebene liegen. Gerade diese Ebene, diese Wahrheiten sind aber für uns lebensnotwendig.

Damit will ich nicht die Wichtigkeit sachlicher Wahrheiten bestreiten: Es ist für einen Menschen selbstverständlich wichtig, etwa das exakte Datum seiner Geburt zu kennen und die Namen seiner Eltern. Ebenso wichtig sind mathematische und physikalische Wahrheiten. Wir können sie nicht ungestraft ignorieren, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass beispielsweise Häuser einstürzen oder Maschinen außer Kontrolle geraten.

Weg-Wahrheiten erweisen sich auf dem Weg

Und doch: So wichtig all diese Wahrheiten sind, die wir prüfen und exakt vermessen können, sie allein reichen zum Leben nicht. Ebenso lebenswichtig sind die Wahrheiten, die sich nicht am Schreibtisch und am Computer feststellen lassen. Ich meine damit die Art von Wahrheiten, auf die ich mich zunächst einlassen, denen ich zunächst trauen muss, um ihre Richtigkeit feststellen zu können. Nennen wir sie einmal Weg-Wahrheiten statt Tatsachen-Wahrheiten. Die meisten Wahrheiten, die das Zusammenleben zwischen uns Menschen betreffen, sind solche Weg-Wahrheiten: Ob ich mich auf einen Menschen wirklich verlassen kann, der mir versprochen hat beizustehen, wird sich erst herausstellen, wenn ich ihm Vertrauen schenke. Nicht umsonst sagen wir in der Umgangssprache auch von Paaren: »Die gehen miteinander«. Ob eine Beziehung trägt, erweist sich nur im Gehen eines gemeinsamen Weges.

Ähnliches gilt übrigens auch für andere Situationen unseres Lebens: Ob sich der Einsatz für ein bestimmtes Anliegen gelohnt hat, werde ich erst in der Rückschau beantworten können. Ob ein beruflicher Wechsel richtig und »dran« ist, werde ich bei aller notwendigen Abwägung im Vorfeld erst erfahren, wenn ich den entscheidenden Schritt getan habe.

Die biblischen Erzählungen dieser Nacht bezeugen Erfahrungen von Menschen, die sich auf den Weg des Glaubens eingelassen haben. Für sie hat sich dieser Weg bewahrheitet. Mit ihrem Zeugnis wollen sie auch uns immer wieder auf diesen Weg locken. Jede Schriftlesung dieser Nacht ist deshalb Bekenntnis und Einladung zugleich:

Einladungen auf den Weg des Glaubens

So ruft uns der Schöpfungsbericht der Genesis zu: Glaubt doch, dass Gott, der Schöpfer, die Welt gut, ja sehr gut erschaffen hat, und dass er es weiterhin gut mit ihr meint, auch wenn es sehr oft nicht danach aussieht!
Glaubt doch, so sagen uns die Verfasser des Buches Exodus, dass Gott selbst da Wege eröffnen kann, wo wir menschlich völlig am Ende sind. Wir jedenfalls haben es am Schilfmeer so erfahren.

»Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht?«, fragt kritisch der Prophet Jesaja im Auftrag Gottes, und er richtet uns auch Gottes Antwort aus: »Hört auf mich und kommt zu mir, dann werdet ihr leben.« (Jes 55,2f) Nicht minder kritisch hörten wir den Propheten Ezechiel, der die versteinerten Herzen seiner Zeitgenossen anprangert, aber zugleich die feste Gewissheit hat, dass Gott die Macht hat, auch den härtesten Stein zu erweichen.

Und dann Paulus: Mit seinen Briefen, aber noch mehr mit seinem ganzen Leben steht er dafür, dass es von Jesus Christus her für jeden Menschen einen wirklichen Neuanfang gibt. Paulus hat sein altes Leben und Denken abgelegt und vom Evangelium her einen radikalen Perspektivenwechsel vollzogen. In seiner Sprache heißt das: »Sind wir mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden« (Röm 6,8).
Und schließlich die warnende Frage des Osterevangeliums: »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?« (Lk 24,5) Das heißt: Denkt von Gott und seiner Macht nicht zu klein! Er hat den Stein vom Grab weggesprengt. Er hat den geistigen Horizont der Frauen, die zum Grab gingen, um Jesus einzubalsamieren, aufgesprengt. Wenn ihr es zulasst, wird er auch euren Lebenshorizont sprengen.

Ostern begehen

Liebe Schwestern und Brüder! Sie spüren: Die Erzählungen dieser Nacht sind keine Erzählungen, die man ungerührt zur Kenntnis nehmen kann. Sie sind auch keine Geschichten, die einlullen und schläfrig machen. Im Gegenteil: Es sind Erzählungen, um seelisch wieder wach zu werden; Erzählungen, die unruhig machen, Erzählungen, die Fragen auslösen und uns neu herauslocken wollen auf den Weg des christlichen Glaubens.

Wie schön übrigens, dass wir im Deutschen die Formulierung kennen: »ein Fest begehen«. Dieser Ausdruck zeigt uns auch die Richtung für die Feier des Osterfestes an: Nur wenn wir dieses Fest wirklich begehen, d. h. uns auf den Weg einlassen, den dieses Fest uns eröffnet, dann wird uns auch die Wahrheit dieses Festes aufgehen. Amen – Halleluja.

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